Sage mir, wie Du wohnst

... und ich sage Dir, wie Du fährst

(Harald Kaiser/Auto-Medienportal) Der erste Eindruck: Das kann nur ein verspäteter Aprilscherz sein. Angenommen, Sie wohnen in Müllerstadt in der ruhigen Maierstraße in einem unauffälligen Mehrfamilienhaus im zweiten Stock. Dort leben aus Ihrer Sicht ganz normale Bürger.

Kein Porsche vor der Tür, auch kein heiß gemachter und tiefergelegter BMW mit breiten Schlappen und es parkt schon gar kein Lamborghini in dieser Straße. Trotzdem kann es sein, dass Sie wegen der Wohnlage künftig von Ihrer Kfz-Versicherung als Rabauke am Steuer eingestuft werden, den es zu bekämpfen gilt. Denn Sie kosten unnötig (Versicherungs-)Geld. Die Faustformel dafür lautet: Der Zustand der Häuser verrät die Wahrscheinlichkeit ihrer Bewohner in Bezug auf künftige Autounfälle. Angeblich.

Der zweite Eindruck: Kein Scherz, es ist ernst gemeint. Neben den üblichen Kriterien für die Prämienermittlung wie Regionalklasse, Viel- oder Wenigfahrer, Fahranfänger, Garagen- oder Laternenparker, Alter des Halters, Autotyp, Motorleistung und der individuelle Schadenverlauf ist in Zukunft wohl damit zu rechnen, dass die jeweilige Wohnsituation auch eine Rolle spielen wird. Dabei muss das Gebäude, gleich ob Mehrfamilien-, Einfamilien- oder Doppelhaus, Bungalow oder Villa, gar nicht besonders spießig, verwahrlost oder gar graffitibeschmiert sein. So, wie das Haus nun mal aussieht, strahlt es angeblich eindeutige Signale aus.

Deshalb kann es demnächst gut sein, dass Sie die Quittung für die Wahl Ihrer Wohnung bekommen – nämlich womöglich deftig erhöhte Prämien der Autoversicherung, weil Sie am Steuer Ihres Automobils potenziell ein weit höheres Risiko für andere darstellen als bisher angenommen und kalkuliert. Genauso gut kann es allerdings sein, das muss auch gesagt werden, dass die eine oder andere Prämie sinken wird.

Wann diese Art von erweiterter Einstufung kommt, steht zwar noch in den Sternen. Doch es ist anzunehmen, dass die Versicherer dieses neue Kalkulationskriterium bereitwillig anwenden werden, sobald sie die Methodik für verlässlich erachten.

Basis dafür ist eine neue Studie der Universitäten von Warschau und Stanford/San Francisco. Die kommt zu der Einschätzung, dass allein die Auswertung von Google Street View-Bildern der jeweiligen Bebauung eindeutige Rückschlüsse auf die Risiken und das Verhalten der Hausbewohner für den Straßenverkehr zulässt. Nachzulesen in Englisch als Kurzfassung unter arxiv.org/abs/1904.05270 oder in Langversion und als pdf-Datei unter arxiv.org/pdf/1904.05270.pdf.

Auch wenn man sich als Normalo bei diesem Szenario die Haare rauft, wundern würde es nicht, wenn sich die Versicherer demnächst bei ihrer Prämienberechnung auch auf solche „Erkenntnisse“ stützen. Schließlich geht es um Gewinnoptimierung. Denn das Versicherungsgeschäft ist wie jede andere Branche auch immer darauf ausgelegt, die Summe der Einnahmen größer zu halten als die Summe der Ausgaben. Also liegt es in der Natur der Versicherer, anhand einer Risikoermittlung von Personengruppen abzuschätzen, wie hoch die eventuelle Unfall- und damit Zahlungswahrscheinlichkeit ist, um die Prämien festzusetzen.

Das ist an sich nichts neues. Jemand mit hohem Risikopotential muss daher mehr zahlen, damit es sich wirtschaftlich lohnt. Das ist klar und auch fair. Aber die Wohnsituation in diese Kalkulation mit einzubeziehen und auf dieser Grundlage auf Rambofahrer oder Gentlemendriver zu schließen, wirkt ziemlich absurd.

Angesichts des Bestrebens, das Zahlungsrisiko zu minimieren, dürften die Erkenntnisse der Studienleiter Łukasz Kidziński von der Stanford University und Kinga Kita-Wojciechowska von der Uni Warschau der Assekuranz-Branche jedoch wie gerufen kommen. Die Forscher arbeiteten mit einem Datensatz von 20 000 Versicherungspolicen von Personen, die zwischen 2013 und 2015 in Polen eine Kfz-Versicherung abgeschlossen hatten. Diese wurden zufällig aus der Datenbank eines nicht genannten Versicherers ausgewählt. Jede Police enthielt die Adresse der Versicherungsnehmer und wie oft sie zwischen 2013 und 2015 Versicherungsansprüche geltend gemacht hatten. Der Versicherer teilte auch seine eigene Prognose über künftige Ansprüche mit, für die er sein Risikomodell mit Daten wie die Postleitzahl der Versicherungsnehmer, ihrem Alter, Geschlecht, und bisherigem Schadenverlauf fütterte.

Das deutsch-amerikanische Fachmagazin „Technology Review“ hat zu dieser Studie die federführenden Wissenschaftler befragt und die Antwort auf seiner Internetseite veröffentlicht. Dort heißt es: „Wir haben festgestellt, dass Merkmale, die auf einem Bild eines Hauses zu sehen sind, unabhängig von klassisch verwendeten Variablen wie Alter oder Postleitzahl das Risiko von Autounfällen vorhersagen können“, glauben Kidziński und Kita-Wojciechowska. Dazu bewerteten Experten die Häuser nach folgenden Kriterien: Typ, Alter, Zustand, geschätzter Wohlstand der Bewohner sowie Art und Dichte anderer Gebäude aus der Nachbarschaft. Daraus und mit Hilfe bestimmter (für Laien unverständlicher) mathematischer Formel-Methodik ließen sich dann entsprechende Rückschlüsse auf die Unfall-wahrscheinlichkeit errechnen.

Die Forscher sagen ferner, wenn eine Versicherung diese Erkenntnisse und Faktoren zu ihrem bereits vorhandenen Risikomodell hinzufüge, verbessere sich dessen Vorhersagekraft angeblich um zwei Prozentpunkte. Das klingt auf den ersten Blick nach nicht viel, summiert sich aber unterm Strich schnell auf einen Millionen-Eurobetrag, der gespart beziehungsweise über Prämienerhöhungen zusätzlich eingenommen werden kann.

Die aktuelle Studie ist nur der Anfang. Denn die Wissenschaftler glauben, dass sie durch größere Datensätze und eine bessere Datenanalyse diese Schadensprognosen noch präziser machen können.

Nette Aussichten also. Ob derartige Analysen auch in Deutschland erlaubt sein werden, ist schon aus Datenschutzgründen zweifelhaft. In Polen hingegen dürften die Versicherungsnehmer überrascht sein zu erfahren, dass ihre Privatadressen in Google Street View eingegeben wurden, um ein Bild ihres Wohnsitzes zu erhalten und dieses zu analysieren.

Darüber hinaus ist es fraglich, ob sie über diesen Vorgang aufgeklärt wurden und ob sie anschließend zugestimmt haben, dass eine Versicherungsgesellschaft diese Daten überhaupt zu diesem Zweck verwenden durfte. Tendenziell haben die Möglichkeiten der digitalen Informationssammlung, -analyse und -nutzung in den letzten Jahren stark zugenommen. Und sie werden weiter wachsen. Sie übertreffen die Vorstellungskraft der meisten Menschen, was mit ihren Daten angestellt werden kann. So untersuchte zum Beispiel 2017 ein Forscherteam der Stanford University anhand der Google-Straßenbilder die Verteilung der Automarken in den USA und bestimmte anhand dieser Daten die demografische Zusammensetzung des Landes. Offenbar sind Autos auf merkwürdige Weise zuverlässige Indikatoren für Einkommen, Ausbildung, Beruf und sogar für die Präferenz, wie Bürger bei Wahlen abstimmen. Angeblich war die Trefferquote dieser Erkenntnisse hoch.

Was bleibt, wenn man dem offenbar bevorstehenden weiteren Großangriff auf die Privatheit von Big Brother nicht hinnehmen will? Antwort: Die Google-Bilder des Wohnhauses pixeln lassen. Wobei allerdings das Risiko oder die hohe Wahrscheinlichkeit bleibt, dass die zunächst unverpixelten Fotos von Google ohne Wissen der Betroffenen dennoch an die Versicherer verscherbelt werden können. Schließlich geht es neben sehr viel Geld auch darum, Menschen in ihrem vielfältigen gesellschaftlichen Verhalten möglichst genau einschätzen und mit diesem Wissen Geschäfte machen zu können. (ampnet/hk)

Foto: Auto-Medienportal.Net

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