Aufgespießt: Ich bin gefrustet

Das mir so etwas passiert...

(Helmut Harff) Ich bin frustriert, ich bin verwirrt, ich bin auch sauer. Mir ist etwas passiert, mit dem ich nie gerechnet hätte.

Wenn überhaupt, dann hätte ich damit in vielleicht 20 Jahren - und damit weit nach meinem Verfallsdatum - gerechnet. Und wenn überhaupt, dann hätte ich überall auf der Welt, aber garantiert nicht in Berlin damit gerechnet. Schließich ist die Hauptstadt für alles berühmt und berüchtigt, nur nicht für seine freundlichen Menschen.

Was mir passiert ist? Schlimmes, so schlimmes, das sich meine Tastatur fast weigert, meine Gedanken zu erfassen. Vor noch wenigen Jahren regte ich mich darüber auf, als junger Mann bezeichnet zu werden. Da war ich erst 50 Jahre jung. Nur zehn Jahre, also kurze Zeit später, war ich der Herr oder der nette Herr. Nun hatte und habe ich nichts dagegen als Herr tituliert zu werden. Das klingt viel besser, als der Mann oder der Typ da.

Na, mit Typ könnte ich ja noch leben. Schließlich ist ein Typ ja einer, der nicht in der Masse untergeht. Aber mit 60 als Typ bezeichnet zu werden - das ist irgendwie auch nicht so erstrebenswert. Ob das nun besser ist, als mit "Mein Herr" angesprochen zu werden, kommt wohl eher auf die Situation an.

Da gefällt es mir schon viel besser, wenn - wie vor kurzem geschehen - eine Kollegin meint, dass ich viel jünger als eben 64 Jahre aussehe.

Doch zurück zu meinem Aufreger der Woche: Ich stieg in Berlin-Friedrichstraße in die wie immer volle S-Bahn und dachte, dass es doch gut sei, dass so viele in Berlin E-Roller, Fahrrad oder Auto fahren. Sonst wäre die S-Bahn noch voller. Da passierte es!!! Eine junge, attraktive Frau im Sommerkleid sprach mich an - einfach so. Sie wollte sich nicht beschweren, weil ich ihr im Gedrängel zu nahe gekommen bin. Sie wollte auch keine Zeitung verkaufen oder nach dem Weg fragen.

Die Frau saß einfach nur da und sprach mich an. Ich wusste zuerst gar nicht, was sie von mir wollte. Ich verstand sie bei dem Geräuschpegel in der S-Bahn nicht gut. Dann wurde mir schlagartig klar, was sie von mir wollte und meine Gesichtsfarbe wechselte von rot zu käseweiß und wieder zurück. Warum? Die Frau tat gerade etwas, was ich noch aus meiner Kindheit kannte - sie bot mir ihre Sitzplatz an. Mir, der sich maximal für 50 Jahre alt hält.

Da gab es ein menschliches, da gab es ein junges weibliches Wesen mitten in Berlin und bot mir einen Sitzplatz an. Das war in etwa so überraschend, als wenn dort in der Bank Angela Merkel knutschend mit Donald Trump sitzen würden. Haben Sie schon mal erlebt, dass jemand einem anderen einen Sitzplatz anbietet oder haben Sie so eine Ungeheuerlichkeit schon einmal selber gewagt. So etwas gibt es vielleicht in Medelin, Peking oder Pjöngjang, aber doch bitte nicht in Berlin.

Sie merken, ich habe mich noch immer nicht beruhigt. So etwas kann einen aber auch aufregen. Nur der jungen Frau habe ich inzwischen verziehen. Sie war nur kurz in Berlin, kannte also die Gepflogenheiten in Deutschlands Metropole nicht.

Wie auch, sie stammt aus Kasan und hat deutsche Vorfahren. Das erfuhr ich aber erst, nach dem wir uns beide stehend unterhielten. Unser hin und her hatte ein gebrechlicher zwanzigjähriger Mann genutzt und seinen schon sehr gealterten Körper eine Ruhephase auf dem S-Bahnsitz gegönnt. Wir beide lachten und waren uns sofort einig: So ist Berlin.

Foto: Pixabay

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