Der 24. Juni ist für Alfa Romeo ein historisches Datum: An jenem Tag vor 110 Jahren wurde die Biscione – wie die Traditionsmarke in Italien in Anlehnung an die Schlange im Logo genannt wird – gegründet.
Mit der „Storie Alfa Romeo“ wird jetzt im Internet auf die über 100-jährige Geschichte zurückgeblickt. Dabei werden nicht nur die bekanntesten Modelle der Marke anhand von Archivaufnahmen aus dem Museo Storico, dem Werksmuseum von Alfa Romeo, im Mailänder Vorort Arese, vorgestellt. Der Blick gilt auch der Geschichte und gesellschaftlichen Entwicklung Italiens.
Chefingenieur Giuseppe Merosi entwarf mit dem Tipo 24 HP in seinem Haus in der Mailänder Via Cappuccio den ersten Alfa, noch bevor der Firmenname „Anonima Lombarda Fabbrica Automobili“ offiziell am 24. Juni 1910 registriert wurde. Die „Aktiengesellschaft Lombardische Automobil-Fabrik“ – abgekürzt in den ersten Jahren als A.L.F.A. – hatte von Anfang an enge Beziehungen zu verbundenen Unternehmen in London, Bordeaux und Neapel. Dadurch stand ihr schon früh der internationale Markt offen. Der Grundstein für die Rennsportlegende von Alfa Romeo wurde bereits ein Jahr später gelegt und feierte mit dem Sieg bei der Targa Florio 1923 einen ersten Höhepunkt. Bei dem berühmten Straßenrennen auf Sizilien wurde auch eines der heute bekanntesten Symbole von Alfa Romeo erfunden – das Quadrifoglio (vierblättriges Kleeblatt). Es zierte als Glücksbringer den siegreichen Tipo RL von Werksfahrer Ugo Sivocci.
Überholmanöver mit ausgeschaltetem Licht
Legendär ist auch die vierte Auflage der Mille Miglia, als am 13. April 1930, kurz nach 5 Uhr morgens, ein Alfa Romeo 6C 1750 Gran Sport Spider Zagato mit 150 km/h und ausgeschalteten Scheinwerfern unterwegs war. Am Lenkrad saß Tazio Nuvolari aus Mantua, Spitzname „Nivola“. Neben ihm Beifahrer Gian Battista Guidotti, Chef-Testfahrer im Alfa Romeo Werk Portello. Die beiden schnappten den Werksfahrern Achille Varzi und Copilot Carlo Canavesi den sicher geglaubten Sieg weg, indem sie sich ohne Licht an die Führenden herangepirscht hatten und die Rivalen schließlich mit diesem Überraschungsmoment überholten. Nuvolari erzielte eine Durchschnittsgeschwindigkeit von 100,45 km/h. Damit lag der Durchschnitt des Siegers erstmals jenseits von 100 km/h – auf weitgehend unbefestigten Straßen. Der Rekord schaffte es auf die Titelseiten der Zeitungen in ganz Europa. Mit rund zehn Minuten Rückstand wurde Varzi fassungslos Zweiter. Als Dritter kam Giuseppe Campari, ein weiterer Alfa-Werksfahrer, vor Pietro Ghersi ins Ziel. Alle vier fuhren im Tipo 6C 1750. Insgesamt acht Exemplare des neuesten Rennwagens von Alfa Romeo belegten Plätze unter den ersten elf der Gesamtwertung.
Der Alfa Romeo 6C 1750 untermauerte seine Vormachtstellung im selben Jahr mit Dreifachsiegen beim 24-Stunden-Rennen in Spa-Francorchamps/Belgien und bei der Tourist Trophy in Belfast/Großbritannien. Der Tipo 6C 1750 war eindeutig das schnellste Auto seiner Zeit.
Vittorio Jano war 1926 Technischer Direktor bei Alfa Romeo geworden und der Tipo 6C seine erste Entwicklung. Janos Aufgabe war es, „ein leichtes Auto mit hoher Leistung“ zu konstruieren, das Rennen und Bewunderer gewinnen, aber auch neue Kundensegmente erobern würde. Jano holte hohe PS-Zahlen aus vergleichsweise kleinen Motoren heraus. so entwickelte er Motoren mit einem Hubraum von etwa einem Liter – zum Beispiel für Nutzfahrzeuge – beziehungsweise zwei oder drei Litern für Luxusmodelle.
Janos Vorgänger Giuseppe Merosi hatte schon für den Grand-Prix-Rennwagen aus dem Jahr 1914 – der aufgrund des Ersten Weltkriegs nie eingesetzt wurde – einen Motor entwickelt, der das zukünftige Triebwerksdesign von Alfa Romeo beeinflussen sollte. Merosis GP-Motor hatte zwei obenliegende Nockenwellen, vier Ventile pro Zylinder und Doppelzündung. Mit dem Tipo 6C 1900 (1933), dem Tipo 6C 2300 (1934) und dem Tipo 6C 2500 (1939) führte Alfa Romeo weitere moderne Technik ein. Dazu zählten Einzelradaufhängung und Chassis mit geschweißten statt genieteten Komponenten, um die Torsionssteifheit zu erhöhen.
Mit dem Alfa Romeo 6C 1750, der im Januar 1929 auf dem Autosalon in Rom vorgestellt wurde, erreichte die Baureihe die volle Reife. Der Sechs-Zylinder-Reihenmotor war eine Weiterentwicklung aus dem Tipo 6C 1500. Der Motortyp 6C 1750 wurde in verschiedenen Versionen gefertigt: mit einzelner oder doppelter Nockenwelle, mit und ohne Aufladung durch Kompressor. Die Leistungsspanne reichte von 46 PS (34 kW) in der Turismo-Version bis zu 102 PS (75 kW) beim Tipo 6C 1750 Gran Sport mit angegossenem Zylinderkopf. Bei dieser Spezialversion, von der nur sehr wenige hergestellt wurden, bestanden Zylinderkopf und Kurbelgehäuse aus einem einzigen Block. Auf diese Weise entfiel die sonst zwischen beiden Bauteilen nötige Dichtung, die besonders bei aufgeladenen Motoren zum Durchbrennen neigte. Das Gewicht des Tipo 6C 1750 Gran Sport betrug 840 Kilogramm, er erreichte eine Höchstgeschwindigkeit von 170 km/h.
Eine Schönheit in Weiß
Der Tipo 6C 1750 verfügte außerdem über ein mechanisches Bremssystem, bei dem die großen Trommelbremsen von einem Gestänge betätigt wurden. Der Rahmen bestand aus gepresstem Stahl, die Achsen waren verstärkt und die Blattfedern waren außerhalb der Karosserie anstatt unter den Seitenteilen platziert. Der tiefe Schwerpunkt ermöglichte hohe Kurvengeschwindigkeiten. Der Kraftstofftank wurde weiter zurückgesetzt, um ein größeres Gewicht auf den Hinterrädern zu erzielen und die Gewichtsverteilung zu verbessern.
Die Rennerfolge festigten den Ruf des Modells und machten ihn zum begehrten und teuren Wagen. In Italien zum Beispiel kostete der Alfa Romeo 6C 1750 je nach Version zwischen 40.000 und 60.000 Lire – ungefähr das Siebenfache eines durchschnittlichen Jahreslohns damals. Zwischen 1929 und 1933 verließen 2579 Exemplare das Werk in Portello.
Bis in die 1930er-Jahre war es üblich, lediglich das rollfähige Fahrgestell zu fertigen, also Rahmen mit Motor, Getriebe, Antrieb und Fahrwerk. Der Kunde kaufte es und beauftragte einen externen Karosseriebauer, das Auto zu komplettieren. Der Alfa Romeo 6C 1750 bot nahezu unbegrenzte Möglichkeiten für die renommierten Carrozzerias vor allem in Norditalien. Die mechanische und technische Basis bot sich für die Kombination mit eleganten Aufbauten geradezu an. Die Marke selbst stieg erst 1933 in den werkseitigen Karosseriebau ein.
Der „Flying Star“ (Fliegender Stern) war eines der berühmtesten Exemplare des Alfa Romeo 6C 1750. Gebaut von der Carrozzeria Touring unter der Leitung von Felice Bianchi Anderloni speziell für die Teilnahme am Concours d’Elegance in der Villa d'Este im Jahr 1931. Besitzerin und Millionärin Josette Pozzo ließ ihr Auto komplett weiß lackieren, einschließlich Unterboden, Radspeichen und Lenkrad. Selbstverständlich war auch das Leder der Sitzbezüge weiß. Die einzige Ausnahme war das Armaturenbrett in kontrastierendem Schwarz. Das von der Carrozzeria Touring entworfene Cabriolet wies neue Proportionen auf und überraschte mit Details im Jugendstil. Markantes Beispiel sind die in die Länge gezogenen Kotflügel vorn und hinten, die sich unter den Türen kreuzen, ohne sich zu berühren. Der Alfa Romeo 6C 1750 GS Touring „Flying Star“ gewann den „Gold Cup“ für das schönste Auto – und Josette Pozzo nahm den Preis in einem passenden weißen Outfit entgegen.
Fotos: Auto-Medienportal.Net/FCA