ECHT UND FALSCH

Skulpturen-Triennale Bingen 2020

Diesen Sommer findet zum fünften Mal die Skulpturen-Triennale in Bingen am Rhein statt. Nach den Themen der vergangenen Ausstellungen MENSCH UND MASCHINE und NAH UND FERN werden zwölf Jahre nach der ersten Skulpturenausstellung, die anlässlich der Landesgartenschau 2008 durch das Stifterpaar Gerda und Kuno Pieroth initiiert wurde, in diesem Jahr erneut rund 20 künstlerische Positionen entlang des Rheinufers und an ausgewählten Orten in der Binger Innenstadt unter dem Titel ECHT UND FALSCH thematisch vereint.

Auch für 2020 ist es den Kuratoren Lutz Driever und André Odier gelungen, eine große Vielfalt internationaler künstlerischer Positionen zusammenzubringen. Die Beiträge der Künstler*innen, von denen viele mit direktem Bezug zum Ausstellungsparcours geschaffen wurden, widmen sich mit unterschiedlichen Ansätzen den Fragen nach Original und Fälschung, möglicher Desinformation und Irreführung des Betrachters oder dem Spiel von Erwartung zu Wirklichkeit: Wie echt kann falsch sein? Welche Risiken bergen die Vermischung des Unterschieds von Wahrheit und Lüge? Wer entscheidet darüber, was echt und was falsch ist?

Die amerikanische Künstlerin Jenny Holzer ist vor allem für ihre textbasierten Installationen bekannt. Ein Beispiel für diesen konzeptuellen Ansatz ist ihre Serie schlicht und klar konstruierter Steinbänke mit eingravierten Texten, die einen Ort für Reflexion und Diskussion bieten. Durch die Aufstellung in der Basilika erhält die für die Triennale ausgewählte Steinbank eine spirituelle Dimension und lädt die Besucher*innen ein, sich nicht nur auf die philosophische Komponente des Textes, sondern auch auf den Kirchenraum als einen Ort des Innehaltens und des „Insichgehens“ einzulassen. Jimmie Durhams Beitrag stellt eine Bohrprobe aus dem Petersdom in Rom dar. Die Frage, ob der Stein wirklich aus dem Petersdom stammt, läßt der Künstler bewußt offen und unbeantwortet und schafft dadurch Geheimnisse, Mythen und Aura. Durham legt durch sein Schaffen die Denkmuster einer westlich-zentrierten Weltsicht offen und gibt alternativen, nicht-westlichen Denkweisen eine Stimme und Sichtbarkeit. Das Relative, das diese Kunstwerke in den Vordergrund stellen, findet sich ebenso im Werk Alicja Kwades, deren Kunstwerke sichtbar gewordene Gedankenexperimente zu Raum und Zeit sind. Indem sie den Betrachter*innen die Subjektivität ihren eigenen Erfahrung bewusst machen, sensibilisieren sie diese für ein verändertes Verständnis von Realität. Ebenso wie Jenny Holzer setzt sich die Arbeit von Konstantin Bayer mit den Eigenheiten von Sprache auseinander. Bayer präsentiert an zwei verschiedenen Orten Flaggen mit chinesischen Schriftzeichen, die gestalterisch chinesischen Baustellenhinweisen nachempfunden sind und ausgewählte Zitate des deutschen marxistischen Dramatikers, Regisseurs und Dichters Bertolt Brecht denjenigen des chinesischen Schriftstellers, Essayisten, Dichters und Literaturkritikers Lu Xun gegenüberstellen.

Die Kunstwerke von Jeppe Hein, Dorothea Nold und Maruša Sagadin setzen sich auf unterschiedliche Weise mit dem Stadtraum auseinander. Jeppe Hein bietet mit den „Modified Social Benches“ nicht nur Raum für eine körperliche Interaktion mit seinen Skulpturen, sondern er regt zugleich an, Ausstattung und Nutzung des öffentlichen Raumes spielerisch neu zu entdecken und zu hinterfragen. Mit dem Werbeplakat für das „Welterbe-Parkhaus“ animiert die Künstlerin Dorothea Nold die Besucher*innen zum Nachdenken über mögliche Lösungen für die städtebaulichen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts. Mit „B-Girls, Go!“ ruft Maruša Sagadin junge Frauen dazu auf, sich ihren Raum zu erobern, und fordert eine inklusive Form der Architektur und des Städtebau ein, die alle Akteure der Gesellschaft mit ihren unterschiedlichen Wünschen und Bedürfnissen im Blick hat.

Die kleinformatigeren Arbeiten von Andreas Burger und Pierre Granoux nehmen auf jeweils eigene Weise Bezug auf die Readymades des französischen Konzeptkünstlers Marcel Duchamp (1887–1968) und verweisen damit auf die Themenkomplexe von Original und Kopie, Zitat und Autorschaft. Auch die magisch im Pegelhaus präsentierte Büste der Nofretete, ein 2007 gefertigtes Replikat aus der Gipsformerei der Staatlichen Museen zu Berlin, ist in diesem Kontext zu sehen. Marcel Walldorf wiederum nähert sich auf humorvolle Weise der Ambivalenz im Verhältnis von Mensch und Tier und bringt uns diese näher, indem er durch die Zusammenstellung haariger Tierpräparate mit glatt-glänzenden Porzellanfiguren, die leicht dem Genre des Kitsches zugeordnet werden können, eine irritierende Komponente erzeugt.

Lukas Glinkowskis für die Triennale entwickelte Arbeit „Who’s the fairest of them all?” verweist auf den wachsenden Einfluß der sozialen Medien das Phänomen von Idolen und Helden und dem „wahren Ich“. Die 1986 geborene Künstlerin Charlie Stein macht mit ihrer Intervention „Safe Playground“ ein Dilemma unserer Zeit sichtbar, das angesichts der Anfang 2020 global ausgebrochenen Corona-Krise und der damit einhergehenden existentiellen Unsicherheit mehr denn je an Aktualität gewonnen hat: der Konflikt zwischen Sicherheit und Freiheit. Die Arbeit der aus dem Irak stammenden Künstlerin Havin Al-Sindy setzt sich mit der kulturspezifischen Bedeutung und architektonischen Tradition ihres Heimatlandes am „falschen“ Ort, der Gartenlandschaft des Binger Rheinufers, auseinander. Die Künstlerin sensibilisiert die Besucher*innen in ihrer mit allen Sinnen erfahrbaren Arbeit für die Fragen nach Heimat, nach individueller und kollektiver Erinnerung und Identität.

Die 1913 entstandene und dauerhaft am Binger Rheinufer aufgestellte Statue des Ludwig IV. Großherzog von Hessen und bei Rhein des Berliner Bildhauers Hans Dammann legt beispielhaft dar, wie Zeichen der Erinnerungskultur immer in einem zeitgeschichtlichen Kontext betrachtet werden müssen und wie Geschichtsschreibung und Bildersprache dadurch beeinflusst werden. Einen zeitgenössischen und ortsspezifischen künstlerischen Kommentar zu dieser Thematik hat der Leipziger Künstler Moritz Götze geschaffen, der am Binger Rheinufer die Personifikation der Germania buchstäblich vom Sockel geholt hat und in ironischer Adaption die Elemente, die auf „deutsche“ Tugenden, Tapferkeit und Sieg verweisen, zerlegt und einer Neubewertung unterzieht.

Die kleinformatige Komposition der Figurengruppe „Miniatur“ Sebastian Gögels ist geprägt von Rhythmus und Harmonie ebenso wie von Würde und Anmut, die in den sie umgebenden Raum ausstrahlen – eine Wirkung, die von der Materialität der patinierten Bronze verstärkt wird. Im Gegensatz zu Gögel arbeitet der Wiener Künstler Thomas Stimm mit dem Prinzip der Vergrößerung. Die glänzende Oberfläche und die leuchtenden Farben seines über 3 Meter hohen „Schierling“ weisen zusammen mit der Veränderung der ursprünglichen Größe auf die Künstlichkeit der Darstellung hin. Die monumentale, vertikal nach oben strebende Arbeit von Axel Anklam, deren komplexe Geometrie nicht Ausdruck eines spontanen, subjektiven Empfindens ist, sondern sich aus der Logik eines festgelegten Prinzips ergibt, vermittelt eine ihrer Materialität entgegenstehende Leichtigkeit und erscheint wie ein im Wind flatterndes Tuch. Die für die Triennale in Bingen konzipierte Arbeit von Sabine Groß hinterfragt wie andere Skulpturen der Künstlerin den ihr zugrunde liegenden Entstehungs- und Ausstellungskontext und verweist zugleich auf die Thematik der Materialgerechtigkeit.

Mit ihrer formellen und inhaltlichen Vielfalt laden auch 2020 wieder die ausgestellten Kunstwerke die Besucher*innen der Skulpturen-Triennale ein, das Gewohnte in Frage zu stellen und neue Sichtweisen einzunehmen. „Die Triennale ist eine ideale Möglichkeit für die Binger Bevölkerung und für alle unsere Gäste, sich am Rheinufer oder in der Stadt mit der Kunst und kritischen Themen auseinanderzusetzen. Ich danke der Stadt Bingen, die das ermöglicht hat: Ich kenne kein Gelände, das dafür attraktiver wäre.“, so Stifter Kuno Pieroth.

Leider musste das eigentlich geplante umfangreiche Schul-, Jugend- und Vermittlungsprogramm aufgrund der aktuellen Situation abgesagt werden. Stattdessen werden die JUNGEN KUNSTVERMITTLER die Kunstwerke nicht nur vor Ort, sondern auch in digital abrufbaren Videos vorstellen. Ebenso werden Kuratoren- und Künstlergespräche digital angeboten. Das Team der Triennale wird sich im Verlauf der Ausstellung den Gegebenheiten anpassen, z.B. mit dem Angebot von individuell buchbaren Führungen für Kleingruppen, sobald diese erlaubt sind. Aktuelle Informationen zum Stand des Angebots auf der Webseite www.skulpturen-bingen.de.

Zur Ausstellung erscheint ein umfangreicher Katalog, der dieses Jahr aufgrund der besonderen Gegebenheiten auch kostenfrei von der Webseite heruntergeladen werden kann.

ECHT UND FALSCH – 5. Skulpturen-Triennale Bingen 2020

Laufzeit: 6. Juni – 4. Oktober 2020
Ort: Entlang des Rheinufers in Bingen und an ausgewählten Orten der Binger Innenstadt
Ausstellungskonzept: Lutz Driever, André Odier
Veranstalter: Gerda & Kuno Pieroth Stiftung

Bild:
Axel Anklam: Windsbraut 3/3, 2016/17
Edelstahl
260 x 150 x 100 cm
Foto: David von Becker, Berlin

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