„Klotzen, nicht kleckern“ scheint die Devise der chinesischen Marke Nio zu lauten, die seit wenigen Monaten die Platzhirsche auf dem deutschen Markt herausfordert. Mit der Fünf-Meter-Oberklasse-Limousine ET7 will der Hersteller, der sich als Start-up-Unternehmen begreift, zeigen, wie’s geht: Hohes technisches Niveau zu moderatem Preis.
In der Statistik des Kraftfahrt-Bundesamtes sind die Machtverhältnisse unter den Stromboliden bisher klar verteilt: Porsche nimmt mit 859 neu zugelassenen Exemplaren des in zwei Karosserie-Varianten erhältlichen Modells Taycan den Spitzenplatz ein, Audis e-Tron GT folgt mit 272 Anmeldungen in den ersten beiden Monaten dieses Jahres, Teslas Model S bringt es immerhin noch auf 116. Nios ET7 dagegen ist noch nicht einmal zweistellig. Die chinesische Marke kennt bisher kaum jemand und weil sie so vieles anders macht, als eine eher konservativ eingestellte Limousinen-Kundschaft es erwartet, wird es wohl einen langen Atem brauchen, bis das Fremdeln mit der Neuerscheinung nachlässt.
Nio-Käufer sind per Definition der Firma auch keine Kunden, sondern „User“, und sie müssen nicht zwingend an der Ladesäule die Füllung ihres 500-Kilometer-Akkus abwarten, sondern können sich an der „Swap-Station“ binnen weniger Minuten eine leere gegen eine volle Batterie austauschen lassen.
Schon nach wenigen Minuten in dem edel möblierten Viertürer wird klar: Automobiler Luxus ist nicht länger definiert durch noch kuscheligere Schafwoll-Teppiche, noch weicheres Leder und noch feinere Echtholz-Maserung. Künftig geht es um den Umfang digitaler Fähigkeiten und das Maß sinnvoll eingesetzter künstlicher Intelligenz. Das zu untermauern, ist Nomis Aufgabe. Die virtuelle Begleiterin mit der frechen Teenager-Stimme ist die tennisballgroße Schwester von Siri und Alexa. Sie blinzelt verschmitzt von der Mitte des Armaturenbretts und kann ab dem ersten Kilometer bereits per Sprachbefehl Standardaufgaben ausführen wie Fenster öffnen oder die Klimaanlage steuern. Das lernfähige System soll mit zunehmender Einsatzdauer immer komplexere Anforderungen umsetzen können. Bevor das soweit ist, entschuldigt es sich wortreich für nicht verstandene Kommandos.
Teure Entwicklungsarbeit hat sich das Start-up erspart, indem es bewährte Komponenten bei etablierten Herstellern einkauft. Die Palette reicht von Sony (zum Beispiel für Kameras) über BASF (Haptex-Sitzbezüge) bis ZF Friedrichhafen (Luftfahrwerk). Eine bibelschwere Optionsliste, wie bei deutschen Herstellern üblich, gibt es für den ET7 nicht. Head-up-Display, Massagesitze, das ganze Arsenal an Assistenzsystemen – alles inklusive. Lediglich die 21-Zoll-Karbonfaserfelgen werden mit 2100 Euro extra berechnet. Die Anhängelast wird bei E-Fahrzeugen oft als Reizthema empfunden – Nio verspricht 2000 Kilogramm und auch die elektrisch ausfahrende Kupplung zum Ziehen ist inklusive.
Kraft für den Allradantrieb ist im Überfluss vorhanden. 70 oder 100 Kilowattstunden (kWh) Akku-Kapazität (gemietet oder gekauft), 480 kW Leistung, 850 Newtonmeter Drehmoment, in 3,8 Sekunden aus dem Stand auf 100 km/h. Bis unters (serienmäßige) Glasdach ist der Nio angefüllt mit Digital-High-Tech, darunter 32 Kameras, zwölf Ultraschall-Sensoren und ein LiDAR-System, das über mehr als 600 Meter andere Fahrzeuge erkennen kann. Sender und Empfänger des Laser-Detektors sitzen mittig oberhalb der Frontscheibe im Dach und machen so den ET7 unverwechselbar. Dass im Hintergrund je Sekunde Daten in einer Menge verarbeitet werden, wie sie etwa 1,5 Stunden HD-Video entspricht, merken die Nutzer im Normalfall nicht.
In der Abgeschiedenheit einer großzügig dimensionierten Wellness-Lounge mit handschmeichelndem Rattan-Furnier und lederähnlichem PET-Rezyklat gleiten die Insassen vom Straßenlärm befreit dahin. Bei 100 km/h liegt das Geräuschniveau in der Kabine unter 60 Dezibel. Die Beinfreiheit im Fond ist dank drei Metern Radstand nicht anders als riesig zu nennen. Ist der Fahrersitz auf einen 1,90 Meter großen Menschen eingestellt, bleiben 35 Zentimeter Platz zwischen Lehne und hinterem Sitzpolster. Vorn beträgt die Kabinenbreite 1,52 Meter, hinten 1,49 Meter. Zwar ist die Ladekante nur 66 Zentimeter hoch, jedoch das Gepäckfach mit 363 Litern eher knapp bemessen. Vergleichbare Limousinen mit herkömmlichem Antrieb haben um die 500 Liter.
Der zentrale Bildschirm ist nicht so dominant wie bei Teslas Model S, bietet aber nicht weniger Informationsquellen. Das Display hinter dem Lenkrad ist dagegen deutlich kleiner und außer den Fahrzeugen der näheren Umgebung sind dort Fahrdaten zu erkennen. Mit dem nächsten Update sollten die Ziffern für Reichweite, Fahrzeit oder Außentemperatur aber größer dargestellt werden. Funktionssymbole auf den Lenkradtasten fehlen, da sie mehrfach belegt sind. Lenkrad- oder Spiegelverstellung erfordern bis zum Zeitpunkt des Abspeicherns für die jeweiligen Fahrer deshalb etwas Geduld. Mit zunehmender Produktionsdauer wird sich wohl zurechtruckeln, was man derzeit im Innenraum noch an unterschiedlichen Fugenbreiten und nicht bündig passenden Verkleidungsteilen wahrnehmen kann.
Die durch das leicht ovale Steuerrad dirigierte Lenkung ist zwar sehr leichtgängig, fühlt sich zuweilen aber etwas unpersönlich und synthetisch an. Die komfortable Auslegung schreit nicht zwingend danach, dem ET7 hochdynamische Herausforderungen abzuverlangen, doch im „Sport+“-Modus zeigt der 2460 Kilogramm schwere Testwagen, wie er damit umgeht. Brachialer Vortrieb auf der einen, leichtes Untersteuern auf der anderen Seite. Das liegt daran, dass der Allradantrieb die Kraft in jedem Modus 50 zu 50 verteilt und eine eventuell hilfreiche Heckbetonung des Antriebs fehlt.
Trotz seines hohen Gewichts zeigte sich der ET7 im Alltagsbetrieb beim Stromverbrauch recht genügsam. Über 1600 Testkilometer protokollierte der Bordrechner im Mittel lediglich 20,4 kWh für 100 Kilometer. Die „User“ können ihren individuellen Verbrauch fahrt-, monats- oder jahresbezogen abrufen. Die jeweils versprochenen Reichweiten (505 km bei voller Ladung) stimmten bei den Fahrten, wobei im Durchschnitt zehn bis 15 Prozent des Stromverbrauchs auf die Klimatisierung entfielen.
Fazit: Die „gelbe Gefahr“ ist zwar ein Kampfbegriff aus der Mottenkiste des Kolonialzeit-Vokabulars, aber wenn aus China noch mehr Oberklasse-Limousinen dieses Niveaus kommen, kann es nicht nur für Tesla, sondern auch für deutsche Premium-Anbieter ungemütlich werden. Der Nio ET7 leistet sich kaum Schwächen und provoziert nicht nur durch sein hohes Ausstattungs- und Komfortlevel. Er tut es vor allem durch seinen Preis. (cen/Axel F. Busse)
Fotos: Autoren-Union Mobilität/Axel F. Busse
Chinesische Kampfansage an die Platzhirsche
... mit dem Nio ET7
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