100 Jahre Leben: Jeanette Degenhardt, Mülheim an der Ruhr

Drei Damen berichten von ihrem Leben, der Liebe und wie die Pflegehelden ihnen das Leben leichter machen



Wir haben drei Frauen besucht, die zwei Dinge teilen: Sie sind seit Jahren in der "Obhut" der Pflegekräfte eines Franchisenehmers der Pflegehelden. Und sie sind alle über 100 Jahre alt. Genug Anlass, um mal vorbeizuschauen und zu fragen, wie es geht und wie es denn eigentlich so ist, 100 Jahre alt zu sein. Das Ergebnis? Drei mehr als beeindruckende Gespräche.

Teil 1: Jeanette Degenhardt aus Mülheim an der Ruhr

100 Jahre alt, geboren am 3. Dezember 1922 in Kupinin (Falkenhorst)
2 Töchter, keine Enkel

Unsere erste Tour ging nach Mülheim an der Ruhr zu Jeanette Degenhardt und ihrer Pflegerin Wieslawa Kolter. Jeanette Degenhardt ist das Küken dieser drei Damen, sie feierte erst im Dezember 2022 ihren 100. Geburtstag. Ein Banner lud alle Nachbarn und Bekannten ein, es gab Kaffee & Kuchen und viel Sekt. Tochter Rita Krier hatte Gulasch vom Sternekoch aus Bad Godesberg bestellt, zum Festtag von Mutti. Im Esszimmer ist festlich gedeckt, als wir zu Besuch kommen. Es gibt Kuchen von der Konditorei, Kaffee und Sekt, die Zeitung titelt an diesem Tag „Aus für Braunkohle“, Jeanette Degenhardt hält ihrer Tochter das Blatt unter die Nase. „Was bedeutet das jetzt?“ fragt sie kopfschüttelnd. „Ach, Mutti“, antwortet diese. „Das erklär ich dir später.“ Alles verändert sich, die Welt ist heute eine andere, doch wie auch soll alles bleiben wie es war bei einem solch langen Leben.
 
Jeanette Degenhardt sitzt in ihrem Stuhl am Fenster, schaut raus in das Wintergrau und denkt an die alten Zeiten, an die vielen Kilometer, die sie in ihrem Leben gelaufen ist – ob als Kind sorglos tobend auf weiten Wiesen in Polen, aus Liebe durch den Krieg oder als flüchtenden Ausgleich als das Leben sie voll und ganz im Griff hatte, mit harter Arbeit und nicht endenden Tagen im Geschäft. Sie ist ein Sinnbild für die Frauen, die dieses Land nach dem Krieg wieder aufgebaut haben. Und die sich selbst so auch eine Existenz geschaffen haben. Alles hier hat seinen Platz in der Wohnung. Die Tischdeckchen aus alter Spitze liegen mittig platziert, die Blumen sind arrangiert, Tagesdecken spannen sich straff über den Betten, in einer Schale liegen Werther’s Echte bereit.

Wer sind Sie und was war Ihr Leben?
Jeanette Degenhardt:
Arbeit. Ich habe sehr, sehr viel gearbeitet und mit meinem Mann zusammen zwei Geschäfte aufgebaut. Tapeten, Farben, Lacke, das war unser Geschäft. Aber diejenige, die wirklich im Laden stand und gearbeitet hat, war ich. Mein Mann machte gern im Hintergrund die Bücher.

Was für eine Kindheit hatten Sie?
Jeanette Degenhardt:
Eine sehr, sehr schöne auf dem großen Gut meiner Eltern. Es war sehr behütet alles und wunderschön.

Gibt es schlechte Erinnerungen an Ihre Kindheit?
Jeanette Degenhardt:
Nein, nicht eine. Es war wirklich wie aus dem Bilderbuch. Wir lebten dort zusammen mit Pferden und Kühen und all den anderen Tieren, waren viele Menschen und es fehlte uns an rein gar nichts.

Wie haben Sie Ihren Mann kennengelernt?
Jeanette Degenhardt:
1940 gab es in Warschau ein Konzert, da bin ich mit meinen Freundinnen hin, das war aufregend für uns, wir waren alle etwa 18 Jahre alt. Es spielte auch eine deutsche Band. Meine Freundinnen fragten mich: „Sag, wenn Du Dir jetzt hier einen aussuchen könntest, welchen würdest Du nehmen?“ Und mir war klar: Nur den am Schlagzeug! Meine Freundinnen sind in der Pause zu ihm und haben ihn mir gebracht – und so lernte ich meinen Hans kennen!
 
Jeannette Degenhardt verließ einige Wochen später ihr Elternhaus und ging zu Fuß durch Winter und Krieg ca. drei bis vier Wochen nach Mühlheim an der Ruhr. Teilweise wurde sie von Militärfahrzeugen mitgenommen, doch den größten Teil lief sie, schlief in Scheunen oder durfte bei Fremden auf dem Fußboden liegen. Ihre Tochter Rita Krier erzählt, dass der Wechsel von einem Leben auf dem Land, umgeben von Natur und Glück, in ein graues zerbombtes Mülheim an der Ruhr für ihre Mutter ein wahrer Schock war. Dort im Elternhaus von Hans angekommen begannen die beiden nach Kriegsende ihr erstes Geschäft aufzubauen. Ihre Eltern hat sie nie wiedergesehen. Einen ihrer Brüder verschlug es nach Elmshorn, er und seine Kinder standen bis zu seinem Tod in engem Kontakt.
 
Worauf sind Sie stolz?
Jeanette Degenhardt:
Auf das, was ich geleistet habe, auf meinen Geschäftssinn. Ich habe 2 Häuser gebaut, da bin ich sehr stolz drauf.

Bereuen Sie irgendetwas?
Jeanette Degenhardt:
Die elendige Schufterei würde ich heute so nicht mehr tun. Ich habe bis nachts um 3 im Laden gestanden, Tapeten gerollt, Farbeimer geschleppt, das Lager aufgeräumt – und stand am Morgen wieder dort und habe gearbeitet. Und dazu auch noch die 2 Töchter!

Wie sehen Sie die Welt heute?
Jeanette Degenhardt:
Immer positiv. Das versuche ich immer.

Was raten Sie jungen Menschen heute?
Jeanette Degenhardt:
Den Frauen sage ich: Nehmt bloß den richtigen Mann und macht Euch nicht so kaputt wie ich! Seid nicht so dumm. Und allen anderen: Haut das Geld auf den Kopf, wenn Ihr welches habt! Am Ende bekommen es sonst nur die, die es nicht verdienen, gebt es aus! Das Leben kam bei mir immer zu kurz.

Vermissen Sie etwas im Alter?
Jeanette Degenhardt:
Oh ja, meine Flexibilität. Selbst laufen, rausgehen können, kilometerweit habe ich das getan früher. Das fehlt mir sehr, dass ich hier gefangen bin, das entspricht gegen meine Natur. Und die Urlaube mit meiner Tochter Rita, wir waren jedes Jahr gemeinsam am Timmendorfer Strand.

Was mögen Sie mehr? Die Jugend oder das Alter?
Jeanette Degenhardt:
Die Jugend!

Wer ist Ihr Vorbild?
Jeanette Degenhardt:
Meine Eltern. Mein Vater im Besonderen. Er war ein so korrekter Mensch. Bei uns zu Hause waren alle gleich. Die Angestellten saßen mit am Tisch bei uns und wurden nicht herablassend behandelt. Das habe ich mir für mein Leben gemerkt. Jeden gleich zu behandeln.

Hatten Sie Hobbies?
Jeanette Degenhardt:
Ich liebte das Kochen und Backen. Und musste immer raus und laufen, aber zu mehr bin ich nicht gekommen. Durch den Laden hatte ich viel Kontakt zu Menschen, das gefiel mir auch sehr, ich war immer neugierig auf die Menschen.  

Ihre größte Liebe?
Jeanette Degenhardt:
Mein Mann.

Ist Ihnen etwas heilig?
Jeanette Degenhardt:
Nein.

Wie haben Sie selbst gemerkt, dass Sie nicht mehr allein zurechtkommen?
Jeanette Degenhardt:
Oh, das fiel mir schon schwer, da ich ja schon so lange allein lebte, mein Mann starb schon 1982. Doch die Pflegekräfte der Pflegehelden haben mich mit viel Humor überzeugt.

Foto: Dennis König

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