Wenn es um Elektroautos geht, drängen immer mehr chinesische Hersteller nach Europa. Einer von ihnen ist Aiways. Das Start-up hatte sich 2019 erstmals angekündigt und ein Jahr später den U5 auf den Markt gebracht. Seit diesem Jahr steht mit dem U6 nun ein weiteres Modell bereit. Ungewöhnlich ist das Vertriebskonzepot: Verkauft werden die Autos über die Elektronikmärkte von Euronics, gewartet werden sie von ATU.
Mit 4,81 Metern Länge und 20-Zoll-Rädern ist der U6 eine recht imposante Erscheinung. Zudem trägt er eine geschlossene Front und hohe Gürtellinie, was die Karosserie besonders massiv erscheinen lässt. Aufgelockert wird das Ganze durch die formal und farblich abgesetzten Seitenschweller. Unterm Strich wirkt die Fließhecklimousine, die neudeutsch als viertüriges SUV-Coupé geführt wird, deutlich eleganter als der bei gleichem Radstand über zehn Zentimeter kürzere U5, der die Basis bildet. Der Luftwiderstandsbeiwert liegt 0,42 cw niedriger. Auffällig sind die Luftleitelemente an den äußeren Ecken des U6.
Wer erstmals die Tür öffnet, wird gleich mehrfach überrascht. Dezentes Weiß wechselt sich mit roten Türinlets und blauem Armaturenbrett sowie rot-blauen Streifen auf den Sitzen ab. Die eigentliche Cockpitanzeige ist ein schmales digitales Fenster mit lediglich drei festen Anzeigen. Das meiste spielt sich auf und über den 14,6 Zoll großen Zentral-Touchscreen ab, der bis zu acht Informationen gleichzeitig bietet. Und das, was man gemeinhin für die Handbremse halten würde, ist der Wählhebel für die Fahrtrichtung, der durch walzenartiges Drehen des Griffs betätigt wird und an den Schubhebel eines Motorboots erinnert. Wer sich hier nicht auf Anhieb wohlfühlt, der muss schon einen sehr speziellen Geschmack haben. Auch mit der „Kommunikationsfarbe“ Gelb und der Lackierung Mint des Testwagens hebt sich Aiways bewusst von anderen ab.
Die Dimensionen des Innenraums sind üppig und die Beinfreiheit hinten ist mit gut 25 Zentimetern großzügig. Letzteres geht aber auch ein wenig zu Lasten des Kofferraums, der mit einem Volumen von 472 Litern nicht ganz mithalten kann. Bei umgeklappten Rückenlehnen macht er sich aber immerhin gut 1,80 Meter lang. Da geht dann schon einiges. Überraschenderweise fehlt eine Abdeckung. Gleiches gilt für das 1,35 Meter lange Panoramadach: Auch hier verzichtet das Start-up aus Shanghai auf ein Rollo.
Der Aiways U6 hat ein Leergewicht von knapp 1,8 Tonnen. Damit hat der 160 kW starke Motor natürlich keine Mühe. Wer es eilig hat, sprintet in sieben Sekunden aus dem Stand bis auf 100 km/h. Angesichts der Größe des Autos würde man ihm durchaus eine Höchstgeschwindigkeit von 180 km/h zutrauen. Aber Aiways zieht bei Tempo 160 die Reißleine. Dafür wird der Besitzer mit bis zu 400 Kilometern Aktionsradius belohnt. Uns meldete der Bordcomputer bei zu 90 Prozent voller Batterie 365 Kilometer Aktionsradius, bei 60 Prozent Restkapazität beispielsweise noch 215 Kilometer Reichweite. Der vom Bordcomputer gemeldete Langzeitverbrauch von 16,9 Kilowattstunden auf 100 Kilometer ist für ein Auto dieser Größe und Leistung aller Ehren wert. Hier machen sich das relativ geringe Gewicht und die aerodynamische Feinarbeit klar bemerkbar. In 35 Minuten soll der Akku mit einer Ladeleistung von 90 kW wieder von 20 auf 80 Prozent gefüllt werden können.
An Fahrassistenz herrscht kein Mangel und es piept häufiger als einem lieb sein kann. Zudem hat der Aiways auch noch ein Auge auf den Fahrer selbst. Dass das nicht jedem gefällt, weiß auch die Presseabteilung und hat freundlicherweise einen kleinen Handzettel ins Auto gelegt, der auf die Schnelle zeigt, wie wo welcher Assistent zum Schweigen gebracht werden kann. Die Umgebungserfassung der 22 Radar- und Kameraelemente arbeitet recht zuverlässig und erkennt zum Beispiel auch Motorroller als solche, identifiziert allenfalls einmal in Ausnahmefällen einen Radfahrer oder ein Gokart fahrendes Kind als Fußgänger. Die üblichen Warnfristen für fehlende Hände am Lenker sind dem Aiways aber offenbar fremd. Wir legten über 40 Sekunden freihändig zurück, ehe wir eingreifen mussten, weil die Seitenlinie plötzlich fehlte und dem Aiways keine Orientierung mehr bot.
Eco, Normal, Custom, Pedal und Sport sind die wählbaren Fahrstufen. Dabei ist die Reihenfolge recht unglücklich komponiert. Auf Eco folgt unmittelbar Sport und auf Sport das Extrem Pedal. Das Fahrwerk tendiert Richtung Komfort, den die 20-Zoll-Räder dann wieder ein wenig zunichte machen. Brems- und Lenkgefühl sind eher synthetischer Natur, während das schmale, sehr schräg stehende Heckfenster weit mehr Sicht nach hinten bietet als man ihm auf den ersten Blick zutraut.
Fazit: Der Aiways U6 sticht außen wie innen optisch aus der Masse hervor, bietet viel Platz und Komfort und ist zudem noch recht sparsam. Auch der Preis geht in Ordnung. Was will man also mehr? Vielleicht das Ganze eine oder sogar zwei Nummern kleiner: Wie wäre es mit einem, sagen wir höchstens 4,40 Meter langen und leichterem U3, der sich dann auch noch mit rund 16 Kilowattstunden Realverbrauch zufrieden geben könnte. (cen/jri)
Gerne auch zwei Nummern kleiner
... hätte Jens Riedel den Aiways U6
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