Man könnte sagen: Er ist ein Biedermann. Der Begriff klingt nach Langweile. Da ist was dran. Oder diese Einschätzung: Seine Ausstrahlung ähnelt der eines Schwarzbrots. Auch nicht ganz abwegig. Man könnte ihn aber auch so beschreiben: Er ist ein zeitloses Geschöpf, das nicht auffällt und sich unter anderem deswegen massenhaft verbreitet hat. Das trifft‘s wohl am besten. Gemeint ist der VW Golf, der am 29. März 1974 erstmals vom Band in Wolfsburg lief und der den Konzern nach zwei katastrophalen Jahren vor dem Ruin rettete.
1973 erzielte Volkswagen nach verwöhnten Jahrzehnten nur noch kärgliche 82 Millionen Mark Gewinn. 1974 schlug die Bilanz schließlich mit 807 Millionen Mark Verlust derart hart im Ergebniskeller auf, dass die Presse bereits über eine mögliche Pleite spekulierte. Dass es bereits ein Jahr nach den blutroten Zahlen und dem Blick in den Abgrund anders kam, lag vor allem an dem neuen Auto vor 50 Jahren.
Eigentlich ist über den Golf, der den legendären VW Käfer beerbte und nach ihm ebenfalls zum wichtigsten Umsatzbringer des Konzerns werden sollte, in den nun fünf Jahrzehnten seines Daseins alles gesagt und es wurde auch alles über das Modell von 1974 geschrieben: Welcher Preis (7995 DM), wie stark (50 PS), wie schnell (145 km/h), welche Straßenlage (prima), wie sparsam (neun Liter), wie geräumig (fünf Personen), wie wirtschaftlich (1a Preis/Leistung), wie fortschrittlich (sehr), wie sicher (damals erstklassig), welcher Kundendienst (super) – und wie er durch die Summe dieser Eigenschaften die Konkurrenz auf Jahre hinaus meilenweit abhängen konnte. Auch seine Zukunft ist klar: elektrisch.
Rätseln dürfte hingegen viele an Hintergründen interessierte Besitzer bis heute darüber, wie das Kunststück gelingen konnte, einem schnöden Fortbewegungsmittel weltweit diesen Evergreen-immer-gut-angezogen-Kultstatus zu verpassen. Ein Teil der Erklärung ist sicher die, dass der Wagen wegen seiner modernen Technik, der Zuverlässigkeit, der Anspruchslosigkeit und dem Platzangebot zur Ikone des Kompaktwagensegments aufstieg wie Nivea für Handcremes oder Tempo für Papiertaschentücher stehen.
Andererseits, und das ist in der Wahrnehmung der Zielgruppe längst verschüttet, wurde dieser Nimbus nicht zuletzt auch durch ein massives und viele Millionen teures Werbedauerfeuer auf allen Medienkanälen erreicht. Die Abbildungen in den Anzeigen wurden sorgsam inszeniert. Nicht irgendein Foto des Golf und eine mehr oder weniger stümperhafte oder marktschreierische Textzeile weckten die Aufmerksamkeit, sondern der Hauptdarsteller war eingebettet in eine kleine Geschichte, die in Sekundenschnelle erfasst werden konnte. Garniert mit pfiffigen, frechen, selbstbewussten oder auch provokanten Schlagzeilen.
Dabei standen selten die Motorstärke oder die Höchstgeschwindigkeit im Mittelpunkt. Wichtiger war der auf den Bauch zielende und ungeschriebene Subtext: „Einer für alle“. So wurde die Millionen Menschen umfassende Zielgruppe 1974 zur Markteinführung mit der treffenden Zeile „Ein Auto für breite Kreise“ angesprochen. Dazu ein Bild, das den Golf von vorne und halb von oben zeigte, aus dessen vier geöffneten Türen jeweils ein Mensch in die Kamera schaute. Oder im gleichen Jahr die Variante mit dem flapsigen Spruch: „Der neue Volkssport: Golf.“ 1975, als eine Sparwelle durchs Land schwappte, hieß es in großformatigen Farbinseraten schmissig: „Fahren Sie Golf. Benzin ist teuer“. Und für die knausrige Dieselversion texteten die Werbestrategen gekonnt: „Das Sechs-Liter-Auto.“
Mitte 1976, als die scharfe GTI-Version mit 110 PS und 184 km/h Spitze antrat und zum Autobahnschreck werden sollte, hieß es auf Doppelseiten: „Auto, Motor und Spurt“ – in Anlehnung an ein Automagazin fast gleichen namens. Am griffigen Sportlenkrad dieses heißen Ofens hat so mancher Jungspund mit großer Lust die stärkeren und behäbigeren Spießer-Limousinen vom Schlage eines Ford Granada oder Opel Rekord verblasen.
Diese gekonnten Anzeigen-Kompositionen erzeugten nicht nur Neugierde und stoppten das instinktive Bedürfnis rasch weiter zu blättern. Fast immer schmunzelten die Betrachter auch wegen der pfiffigen Ideen in Bild und Text. So hämmerten sich die kühlen technischen und konstruktiven Qualitäten des Wagens unmerklich ins Unterbewusstsein potentieller Neukunden.
Was viele Interessenten schlussendlich zur Unterschrift auf dem Kaufvertragsformular verführte, war ein psychologischer Faktor: Der, dass man sich mit dem Auto sozusagen gut angezogen fühlen konnte. Oftmals stellte sich dieses unterschwellige Gefühl erst während einer Probefahrt ein. Bis heute lässt sein zeitloser und unauffälliger Chic wie einst beim Käfer keine soziale Einstufung der Person am Lenkrad zu.
Gleichgültig, ob ein reicher Knopf im hochgerüsteten, aber beinahe anonymen Sechszylinder-Typ R32 mit 241 PS Gas gibt oder ob ein armer Schlucker im angerosteten Dritte-Hand-Golf mit 150.000 Kilometern auf dem Blechbuckel – das Äußere des Wolfsburger Jedermanns verrät seit 50 Jahren nichts über die Dicke des Portemonnaies.
Diese Schlichtheit gilt in Fachkreisen der Verkaufspsychologie als der eigentliche Schlüssel des Welterfolgs. So haben sich bis Ende 2023 mehr als 37 Millionen Kunden weltweit für ihn entschieden. Ein ehemaliger VW-Chefdesigner beschrieb das strenge Formgebungsrezept so: „Ein neuer Golf darf optisch nie eine Revolution sein. Dadurch würde das Vorgängermodell alt aussehen. Das würde den Besitzern nicht gefallen. Man muss sehr behutsam vorgehen.“
Was nicht ausschließt, dass in der großen und nahezu gleich eingekleideten Golf-Familie auf potente Brüder verzichtet werden muss. Das nach wie vor gültige Design-Credo, dass weniger mehr ist, signalisieren an den heißen Varianten neben breiteren Reifen lediglich kleine Typen-Kürzel wie GTI, VR6 und R32 im Heck oder am Kühlergrill. Mit mächtig Dampf unter der Fronthaube können diese optisch vielfach unterschätzten Golf-Ableger bis rauf auf fast 250 Sachen bei Fahrern wesentlich dickerer Schlitten im Handumdrehen Verdruss erzeugen.
Auch bei den Neuwagen-Zulassungen zog der Konzern-Rettungswagen allen anderen schnell davon. Bereits 1975 übernahm der Bestseller die Führung in der amtlichen Statistik: 166.869 Golf bekamen damals ein neues Nummernschild, etwa 47.000 mehr als der zweitplatzierte Konzernbruder Passat. Ende 1983 wurde die Marke von knapp fünf Millionen hergestellten Golf erreicht.
Volkswagen suchte damals mit Hilfe einer Kundenstudie nach den Gründen des enormen Erfolgs. Ergebnis: 40,1 Prozent der Befragten gaben Markenloyalität als Kaufgrund an, für 35,7 Prozent waren der geringe Wertverlust, die Wirtschaftlichkeit sowie der niedrige Spritverbrauch entscheidend und 30,2 Prozent schätzten die Robustheit des Wagens.
Des Weiteren förderten Image-Untersuchungen seinerzeit die Erkenntnisse zutage, dass sich der typische Golf-Käufer für selbstsicher, aktiv, kultiviert, vielseitig, pragmatisch und fortschrittlich hielt. 73 Prozent waren männlich, 41 Prozent gaben als Bildungsabschluss Volksschule an, elf Prozent Abitur und 43 Prozent wiesen sich als Angestellte aus.
In die Jahre gekommen blätterte schließlich der Lack des Erfolges auch am Golf trotz ständiger Verbesserungen hier und da ab. Vor allem, weil die Konkurrenten in der Kompaktklasse, die durch ihn überhaupt erst gegründet worden war, immer zahlreicher wurden.
2022 notierten die Wolfsburger Statistiker nur noch 84.282 Neuzulassungen des Wagens. Das reichte zwar wieder für die Spitzenposition, doch genügt das nicht den Ansprüchen Volkswagens. Und 2023 hielt die sinkende Tendenz an: Lediglich 81.117 Stück des Verkaufsflaggschiffs in der achten Generation wurden bis Ende Dezember erstmals zugelassen.
Aktuell stehen bei VW ähnlich große Veränderungen an wie 1974, als der in der Herstellung viel zu teure VW Käfer den Konzern fast in den Abgrund gerissen hätte. Diesmal sind allerdings keine roten Zahlen, die in schwarze verwandelt werden müssen. Sondern es geht um den Ausbau des Elektroangebots und auch um die Antwort auf die strategische Frage, in wie weit das Konzernkonzept in Richtung synthetischer Treibstoffe ausgeweitet werden soll. (cen)
50 Jahre VW Golf
Der Schlüssel des Erfolgs
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