Kennen Sie das? Gelangen wir an einen Ort, der schon seit längerer Zeit nicht mehr für den Zweck genutzt wird, für den er einst erschaffen wurde, stellen sich plötzlich Dutzende von Fragen. Warum ist er verlassen worden? Welche Menschen haben hier einst gelebt oder gearbeitet?
Was würden die Mauern und Anlagen erzählen, wenn sie sprechen könnten? Material zu 46 dieser „Lost Places“ hat Herausgeber Clément Mathé in einem gleichnamigen Atlas zusammengetragen. Einige der Lokationen liegen in Amerika oder Asien, doch eine ganze Reihe der bemerkenswerten Orte finden sich in Europa und locken teils noch zum Besuch.
So etwa die Zisternen, die im Tunnelgeflecht unter der britischen Hauptstadt London die Wasserversorgung der Bevölkerung sichern sollten. Sie teilen sich die Unterwelt mit einem Geflecht aus U-Bahn-Röhren, Kabelschächten, Bunkern und Kellern, die teils der Nutzung durch die Geheimdienste vorbehalten waren. Oder die Crossness Pumping Station in derselben Stadt, die 1856 errichtet die Themse von ihrem Kloaken-Dasein erlöste. Das Abwasser wurde gespeichert und zweimal täglich mit der Ebbe ins Meer gespült. Zumindest Abwasser und Fäkalien konnten so entsorgt werden, Feststoffe ließen die Briten noch bis ins Jahr 1998 von so genannten Schlickbooten bis zur Mündung der Themse schippern und dort verklappen. Die Pumpstation mit ihren herrlichen Jugendstil-Dekorationen kann ganz offiziell besichtigt werden.
Beeindruckend ist in England außerdem das Royal Aircraft Establishment in Farnborough südlich von London. Dort wurden im ersten Weltkrieg erstmals Flugzeuge auf ihre aerodynamischen Eigenschaften getestet, ohne dabei das Leben der Piloten auf Spiel zu setzen. 1917 wurden dort die ersten Windkanäle gebaut, in denen man Flügel, Leitwerke und ganze Flugzeugprototypen auf ihre Tauglichkeit untersuchte. Sie gelten als die ersten ihrer Art und wurden für die Royal Airforce zum wichtigsten Forschungsstandort. Sie spielten am Ende vermutlich eine kriegsentscheidende Rolle. Namhafte Ingenieure traten ihren Weg von hier in die aufstrebende Flugzeugindustrie an, die Gründer von Rolls-Royce oder DeHavilland Aircraft waren Forscher der Einrichtung.
Den Mythos der fortschreitenden Industrialisierung spürt der Besucher des Erzspeichers Rote Erde in Esch-sur-Alzette in Luxemburg, der 1907 erbaut als Teil eines riesigen Stahlwerks als letztes Gebäude des Betriebs übrig geblieben ist. Er diente dem legendären Film „Die purpurnen Flüsse 2“ als schaurige Kulisse und ist auch heute noch eine Top-Adresse für Mode- und Architektur-Fotografen. Sehr viel romantischer und freundlicher geht es im verlassenen Theater aus dem 18. Jahrhundert von Dole in Frankreich zu. Der farbenfrohe Theatersaal wurde mittlerweile aufwändig restauriert und gelegentlich für kulturelle Veranstaltungen genutzt. Auf sechs Etagen finden heute 600 Besucher Platz.
Auch die Zeche Hugo in Gelsenkirchen hat die Jahre überdauert. Zwar wurde der Betrieb aufgrund der erschöpften Ressourcen im Boden im April 2000 stillgelegt, doch zeugen die überirdischen Gebäude vom Alltag der Kumpel in den vorigen Jahrhunderten. Erhalten ist etwa die so genannte Kaue, der Umkleideraum der Bergleute, wo sie ihre Kleidung an Haken hängen und unter die Decke ziehen konnten. Dies sparte Platz und durchlüftete die Garderobe gleichzeitig. Außerdem wurde sie so vor Diebstahl geschützt, da sich die Kette mit einem Schloss sichern ließ. Der Bahnhof Hunedoara in Rumänien, die verlassene Stadt Prypjat bei Tschernobyl in der Ukraine oder der Bahnhof der Standseilbahn in Tiflis (Georgien) zählen ebenfalls zu den vielen mehr oder weniger verlassenen Orten, die der Atlas zusammengefasst hat.
Jedes Bauwerk wird darin beschrieben und mit kunstvollen Fotografien vorgestellt. Manchmal vermissten wir ein paar tiefer gehende Informationen und auch die Übersetzung aus dem Französischen ins Deutsche holpert an manchen Stellen. Doch fängt das Buch den Betrachter mit der mythischen Ausstrahlung seiner beschriebenen verlassenen Orte ein. Es reizt durchaus zum Besuchen der verschiedenen Orte, verleiht aber auch dem weihnachtlichen Gabentisch einen besonderen Glanz. (aum)
Atlas der Lost Places
Herausgeber Clément Mathé
Jonglez-Verlag
Preis: 25 Euro
ISBN: 978-2-36195-778-0
Atlas der Lost Places
Atlas der verlassenen Orte
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