Marc Chagall

... zu bewundern in der Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, K20



Der russisch-französische Maler Marc Chagall ist ein Ausnahmetalent der Moderne und zählt zu den wichtigsten Künstler*innen des 20. Jahrhunderts. Seine fantastisch-poetischen Bildwelten und deren Motive sind bis heute rätselhaft, deren leuchtend intensive Farbigkeit außergewöhnlich.


Mit 120 Gemälden und Papierarbeiten konzentriert sich die Ausstellung im K20 der Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen vom 15. März bis 20. August 2025 auf seine frühen Arbeiten, die zwischen 1910 und 1923 entstanden sind. Deutlich zeigt sich hier neben den Einflüssen der Avantgarden auf das Werk Chagalls ein bislang wenig bekannter Aspekt des renommierten Künstlers – die gesellschaftskritische und bisweilen dunkle Seite seines Werks.

Marc Chagall (geb. 1887 in Witebsk, Russisches Kaiserreich, heute Belarus – gest. 1985 in Saint-Paul-de-Vence, Frankreich) kommt 1911 mit 23 Jahren nach Paris. Wie viele seiner Künstlerkolleginnen ist er mittellos, spricht kaum Französisch und ist überwältigt von der Modernität und Energie der Stadt. Anders als in anderen europäischen Ländern, wurden Juden in Frankreich ab dem Jahr 1791 als freie Bürger anerkannt. Das zog viele jüdische Künstlerinnen nach Paris, um dort zu leben und zu arbeiten und sich frei in der Kunst auszudrücken. Dennoch waren sie im Alltag mit Ausgrenzung und Diskriminierung konfrontiert.

Chagall findet, anders als die meisten Immigrantinnen, nach kurzer Zeit Zugang zu den Pariser Zirkeln der künstlerischen und literarischen Avantgarde und wird Teil einer eingeschworenen Freundesclique, die sich gegenseitig unterstützt. Deren Kern bilden die Literaten und Kunstkritiker Guillaume Apollinaire, Blaise Cendrars und Ludwig Rubiner, der Filmtheoretiker Ricciotto Canudo und die Künstlerinnen Robert und Sonia Delaunay, Fernand Léger und einige andere. Auch Herwarth Walden, der Berliner Galerist und Herausgeber der Zeitschrift Der Sturm, ist Mitglied dieses Kreises. Er zeigt 1913 Werke des noch unbekannten Chagall im Ersten Deutschen Herbstsalon und ermöglicht ihm 1914 seine erste große Einzelausstellung überhaupt

Worin begründet sich Chagalls früher Erfolg? Wie viele junge Künstler*innen experimentiert auch er mit den Stilen der westlichen Avantgarde. Das Besondere ist, dass er Fauvismus und Kubismus mit jüdischen Motiven und osteuropäischer Folklore verbindet. Daraus entspringt eine aus dem Erleben begründete surreale Motivwelt – das verschafft Chagall ein Alleinstellungsmerkmal in seiner Zeit. Schwebende Menschen und Tiere, Geiger auf Dächern, Riesen, Winzlinge und Mischwesen bevölkern seine stets in überwältigender Farbigkeit gestalteten Kompositionen. Das ist „surnaturel“ (übernatürlich), so schwärmt der Schriftsteller Guillaume Apollinaire beim ersten Besuch in Chagalls Atelier. Innerhalb von nur vier Jahren hat sich Chagall einen unverkennbaren Stil erarbeitet. Doch die fremden Welten, die Chagall entwirft, sind keineswegs nur poetisch aufgeladene Märchen, sondern enthalten scharfe Kritik an den gesellschaftlichen Bedingungen seiner Zeit

Marc Chagall reflektiert zeitlebens seine Herkunft. Vor allem in den frühen Werken thematisiert er die Kindheit und Jugend in der Begrenztheit des jüdischen Viertels in Witebsk. Die Kleinstadt mit ihren eng gedrängten Häusern und dem markanten Kirchturm ist ein oft verwendetes Motiv. Bilder wie Sabbath, 1911, Das gelbe Zimmer, 1911, Russland, den Eseln und den Anderen, 1911, und Golgatha (Die Kreuzigung), 1912, erzählen Geschichten vom jüdischen Alltag, den Festen und Gebräuchen, von Liebe und Lust, aber auch Ritualmordbeschuldigungen und Pogromen, die Chagall 1905 in Witebsk erleben musste.

Nach der Ausstellung in der Sturm-Galerie in Berlin, reist Chagall im Sommer 1914 weiter nach Witebsk. Geplant ist ein kurzer Aufenthalt, doch der Ausbruch des Ersten Weltkriegs verhindert die Rückreise nach Paris. Acht Jahre bleibt er in Russland, wohnt wechselweise in St. Petersburg, Witebsk und Moskau. Durch die Heirat mit Bella Rosenfeld erhält Chagalls Kunst neue Impulse: Das Glück der Zweisamkeit wird zu einem zentralen Motiv. Zugleich greift er auf vertraute Themen zurück: Er malt die Eltern und Geschwister; in diversen Selbstporträts hinterfragt er seine Situation. Malerische Experimente wagt er nur bei Landschaften und Liebespaarmotiven

Die Versprechen der Oktoberrevolution von 1917 wecken zunächst Chagalls Enthusiasmus. Er wird 1918 zum Kommissar für die schönen Künste der Region Witebsk ernannt, gründet eine Kunsthochschule und wird dessen Leiter. Er lädt namhafte Künstler, wie El Lissitzky und Kasimir Malewitsch als Lehrer ein. Ihre unterschiedlichen Kunstauffassungen führen jedoch zu Streitigkeiten. Besonders mit Malewitsch, der für den Suprematismus steht – also für die „abstrakte, reine Malerei“ – gibt es Diskussionen über das Verständnis von revolutionärer Kunst. Als Chagalls Studenten zu Malewitsch wechseln, verlässt Chagall die Akademie und zieht nach Moskau. Die Ausstellung im K20 präsentiert eine Reihe außergewöhnlicher Papierarbeiten, die zeigt, wie Chagall trotzdem über Jahre hinweg mit abstrakten Kompositionen experimentiert.

Chagall kehrt 1922 zunächst nach Berlin und 1923 nach Paris zurück. Er muss feststellen, dass seine zurückgelassenen Werke verkauft oder zerstört sind. Er beginnt, Neufassungen zu malen und begeistert damit Sammlerinnen und Galeristinnen. Erstmals kann er in den 1920er und 1930er Jahren ein unbeschwertes Leben führen. Eine neue Leichtigkeit und ein transparenter Farbauftrag finden Einzug in seine Bilder. Motive aus Witebsk stehen neben neuen, in Frankreich gewonnenen Eindrücken. Eine Einladung der Surrealist*innen, sich ihrer Gruppe anzuschließen, lehnt er ab.

Fortan lässt sich bei Chagall kaum mehr eine chronologisch fassbare stilistische Entwicklung feststellen. Er wiederholt Bildmotive und Themen, schafft dafür neue Kontexte und greift mit der Anlehnung an ein Sujet auch auf frühere Stilstufen zurück.

1941 emigriert Chagall nach New York. Erst 1948 kehrt er nach Frankreich zurück. Seinen herausragenden Status als Künstler hat er längst international manifestiert – durch zahlreiche Ausstellungen und Großaufträge für Glasfenster und Dekorationsarbeiten in Theater und Opernhäusern. Auch in den späten Werken der 1960er bis 1980er Jahre reagiert er sensibel auf gesellschaftliche Entwicklungen und das Weltgeschehen insgesamt. Witebsk und Paris werden zunehmend zu Sehnsuchtsorten und Christus, der gekreuzigte Jude, zum Sinnbild des Leidens

Ausgangspunkt und Anlass der Ausstellung sind drei Gemälde von Marc Chagall, die vor dem Ersten Weltkrieg in Paris entstanden sind und sich im Besitz der Kunstsammlung befinden. Es handelt sich um die Arbeiten Selbstbildnis, 1909, Der Geigenspieler, 1911-1914, und Rabbiner mit Zitrone (Festtag), 1914; alle drei Gemälde dürfen zu den frühen Hauptwerken des Künstlers gezählt werden.

Kuratorin: Susanne Meyer-Büser

Die Ausstellung ist eine Kooperation der ALBERTINA, Wien, und der Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf.

Die Ausstellung wird gefördert durch die Rudolf-August Oetker-Stiftung.

Katalog: Chagall
Herausgegeben von Susanne Gaensheimer und Susanne Meyer-Büser für die Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, Klaus Albrecht Schröder und Gisela Kirpicsenko für die
ALBERTINA

Prestel Verlag, München
Deutsche Ausgabe
248 Seiten; Euro 39,90

Kostenfreier Audioguide zur Ausstellung – exklusiv zum Eintrittsticket erhältlich!

Stiftung Kunstsammlung
Nordrhein-Westfalen
Grabbeplatz 5
40213 Düsseldorf
+49 (0) 211 83 81 730
www.kunstsammlung.de

Bild: Marc Chagall, Schlafende mit Blumen, 1972, La dormeuse aux fleurs, Öl auf Leinwand, 146 x 118 cm, ALBERTINA, Wien – Sammlung Batliner, ALBERTINA, Wien
Foto: Daniel Antalfi, Ana Paula Franco, Paul Landl, © VG Bild-Kunst, Bonn 2024

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