JULIAN IRLINGER „VERIRRTE ZEIGER“

... zu sehen im Kunstverein für Mecklenburg und Vorpommer



Disneyland wird als Imaginäres hingestellt, um den Anschein zu erwecken, aller Übrige sei real. Los Angeles und ganz Amerika, die es umgeben, sind bereits nicht mehr real, sondern gehören der Ordnung des Hyperrealen und der Simulation an. Es geht nicht mehr um die falsche Repräsentation der Realität (Ideologie), sondern darum, zu kaschieren, daß das Reale nicht mehr das Reale ist, um auf diese Weise das Realitätsprinzip zu retten.

Das Imaginäre von Disneyland ist weder wahr noch falsch, es ist eine Dissuasionsmaschine, eine Inszenierung zur Wiederbelebung der Fiktion des Realen. Daher die Debilität dieses Imaginären, sein infantiles Degenerieren. Unsere Welt möchte kindlich sein, um den Anschein zu erwecken, die Erwachsenen stünden draußen in der realen Welt. Man will verbergen, daß die wirkliche Infantilität überall ist und daß die Erwachsenen selbst hier Kind spielen, um ihre reale Infantilität als Illusion erscheinen zu lassen.
Jean Baudrillard, 1978

In seinen künstlerischen Arbeiten untersucht Julian Irlinger mithilfe verschiedener Medien – darunter Skulptur, Fotografie, Zeichnung und Film – die Verflechtungen von Kunst und kulturellen Makronarrativen sowie deren Verbindung mit Gegenwart und Zukunft. Für seine Einzelausstellung „Verirrte Zeiger“ im Kunstverein für Mecklenburg und Vorpommern in Schwerin setzt sich Irlinger mit der Geschichte handgezeichneter Animation auseinander und reflektiert einen Prozess, der der aus der Architektursoziologie bekannten „Disneyfizierung“ ähnelt – die Transformation historischer Narrative und Figuren in affirmative popkulturelle Unterhaltung und politisch motivierte Rhetoriken.

Hierfür greift Julian Irlinger das Medium der Animation auf. Gegenstand ist die Geschichte Ludwigs II. Der König von Bayern, bekannt als „Märchenkönig“, verstarb unter mysteriösen Umständen nach seiner Entmündigung im Starnberger See. Sein bedeutendstes architektonisches Erbe, Schloss Neuschwanstein, ist bis heute eine touristische Attraktion und fungiert zugleich als nationales Repräsentationssymbol Deutschlands. Das bayrische Schloss diente zudem als direkte Inspiration für das „Sleeping Beauty“-Schloss in Disneyland – später stilisiert im Logo des großen amerikanischen Medienunternehmens. Sowohl Ludwig II als auch Walt Disney teilten die Faszination für eine an Wagners Konzept des Gesamtkunstwerks angelehnte Idee der totalen Fiktion. Beide verfolgten das Ziel durch Synästhesie Illusionswelten zu erschaffen, die sich bewusst von historischen und realen Gegebenheiten loslösen und die traditionelle Trennung zwischen Publikum und Spektakel – wie sie im griechischen Theater existierte – überwinden. Hierfür setzten beide auf modernste technologische Innovationen: Ludwig II ließ aufwendig inszenierte Kulissen und fortschrittliche Lichttechnik entwickeln. So entstand im Linderhof bereits 1878 das erste dauerhaft betriebene elektrische Kraftwerk zur Beleuchtung seiner Venusgrotte. Disney wiederum nahm eine Pionierrolle in der Synchronisation von Ton und Bild, der Entwicklung neuer Urheberrechtsstrategien und der tayloristischen Organisation kreativer Arbeit ein sowie mit der Errichtung seiner utopischen Disneyland-Welt.

Im Kontext dieses Spannungsfeldes aus gebauter sowie überlieferter Illusion, Animation, Geschichte und Unterhaltung greift Julian Irlingers Animationsfilm „Ludwig“ das Schicksal des bayerischen Königs als Blaupause auf und untersucht, wie idiosynkratische historische Ereignisse und Figuren überliefert und in Popkultur sowie in politische Narrative überführt werden, um nostalgische Sehnsüchte nach einer „goldenen Vergangenheit“ zu erzeugen. In einer traditionellen, handgezeichneten und kolorierten Cel-Animation zeigt Irlingers Film Ludwig II auf dem Grund des Starnberger Sees liegen. Während sich zwei anthropomorphisierte Fische darüber streiten, ob der König tot ist oder nur träumt, erinnert eine beschädigte, sich in einem endlosen Loop bewegende Uhr auf ein immer wiederkehrendes Rückgreifen auf die Vergangenheit und die damit einhergehende zyklische Verstetigung von Zeit und Raum. Eine Wiederholung die zugleich auf die Eigenlogik der traditioneller Cel-Animationstechnik verweist, bei der bewegte Figuren vor statischen Hintergründen agieren.

Für seine Einzelausstellung „Verirrte Zeiger“ im Kunstverein in Schwerin stellt Irlinger seine Animationsarbeit durch mehrere Projektionen in ein Verhältnis zur architektonischen Beschaffenheit des Kunstvereins, wodurch Parallelen zwischen der Arbeit und der Residenzstadt aufscheinen. Während das Schweriner Schloss bis zum Bau von Schloss Neuschwanstein als einzigartiger Höhepunkt des romantischen Historismus galt, befindet sich auch der Kunstverein in einem denkmalgeschützten ehemaligen E-Werk, dessen Typologie an ein Schloss angelehnt ist und das bis 1969 der ersten städtischen Stromversorgung diente. Indem die Geschichte des E-Werks mit Ludwigs Pionierrolle in der Entwicklung von Elektrizitätswerken ins Verhältnis gebracht wird, bieten die Spezifika der ehemaligen Industriehallen dem Animationsfilm in der räumlichen Inszenierung einen vielschichtigen Kontext. Die einzelnen Teile der Animation, die in Endlosschleifen auf drei Projektoren in jeweils unterschiedlichen Räume des Kunstvereins laufen, werden mit verschiedenen Audiospuren zu einer Gesamterzählung verwoben, die nur in Fragmenten erfahrbar wird.

Im Gegensatz zu dem von Baudrillard beschriebenen Disneyland-Prinzip, das das Imaginäre einfügt, um den Anschein einer realen Umgebung zu erzeugen, verfolgt Irlinger entsprechend die umgekehrte Strategie: Er konfrontiert die animierte Illusion mit der historischen und realen Gegebenheiten des ehemaligen E-Werks.

Kuratiert von: Hendrike Nagel

Biografie

Julian Irlinger (*1986, Erlangen) lebt und arbeitet in Berlin. Irlinger schloss 2017 sein Studium an der Städelschule, Frankfurt am Main, ab. Zuvor studierte er von 2011 bis 2014 Bildende Kunst an der Hochschule für Grafik- und Buchkunst in Leipzig und erhielt 2011 seinen BA in Kunstgeschichte an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Im Jahr 2018 war er einer der Teilnehmer des Whitney Museum Independent Study Program in den USA. Im Jahr 2022 war er Teilnehmer des Berliner Künstlerprogramms.

Institutionelle Einzelausstellungen hatte er im Wende Museum, Los Angeles (2022), in der Galerie Wedding in Berlin (2020), im Wilhelm-Hack-Museum in Ludwigshafen, Deutschland (2019) und in der Kunsthalle Darmstadt, Deutschland (2017). Seine Arbeiten wurden auch in Ausstellungen im Hamburger Kunstverein, Hamburg, Deutschland (2023), MMK Frankfurt (2022), dem Dortmunder Kunstverein, Dortmund, Deutschland (2022), der Kunsthalle Baden-Baden, Deutschland (2018), Artists Space in New York (2018) und der Kunsthalle Wien, Wien, Österreich (2016) gezeigt. Für 2025 ist neben seiner Ausstellung im Kunstverein für Mecklenburg und Vorpommern in Schwerin außerdem eine Einzelausstellung seiner Arbeiten in der Kunsthalle Portikus, Frankfurt am Main, geplant.

Programm:
Kuratorintour:
24.05.2025, 17:00

Finissage:
08.06.2025, 15:00

Kunstverein für Mecklenburg und Vorpommern in Schwerin e.V.
Kunsthalle im E-Werk

Spieltordamm 5
19055 Schwerin
www.kunstverein-schwerin.de
Öffnungszeiten: Dienstag bis Sonntag, von 15-18 Uhr

Bild: Julian Irlinger, Ludwig, Filmstill, 2024.

© Copyright by genussmaenner.de - Berlin, Deutschland - Alle Rechte vorbehalten.
Veröffentlicht am {DATE:d.M.Y : DE} unter dieser Internetadresse: http://www.genussmaenner.de/index.php?aid=86994