
Alle Jahre wieder bieten wir Ihnen in Zusammenarbeit mit dem Zeitgut-Verlag auch diesmal stimmungsvolle Weihnachtsgeschichten. Lebendige Originalfotos und Illustrationen runden diese ergreifenden Geschichten aus der Buchreihe "Unvergessene Weihnachten" ab.
(Telscombe Cliffs, Sussex, England; Advent 1956) Mittagspause im Hause Wherry. Ich sitze in meinem Zim merchen, oben unterm Dach, und es geht mir schlecht. Ich friere erbärmlich, denn die Kammer für „mother’s help“ ist nicht heizbar. Zwar hat Mr. Wherry eine kleine wacklige Heizsonne hineingestellt, mit der Auflage, sie nur nachts zu benutzen und ansonsten weit unters Bett zu schieben. Mrs. Wherry braucht nichts davon zu wissen. Mußte ich denn unbedingt meinen Kopf durchsetzen, um nach England zu kommen?
„Ich gehe ins Ausland!“ – Wie toll das geklungen hatte! Für eine Neunzehnjährige wie mich war das ja wirklich ein verlockender Gedanke, etwas Besonderes, als Au-Pair-Mäd chen weit weg von den Eltern für ein Jahr in einem anderen Land zu arbeiten. Mein Vater war strikt dagegen gewesen und ließ mich schließlich nur ziehen, weil er überzeugt war, daß ich nach sechs Wochen reumütig zurückkehren würde. Jetzt habe ich jämmerliches Heimweh. Es ist Dezember, aber Weihnachten in England finde ich doof. Schon seit Anfang des Monats steht der Weihnachtsbaum im Wohnzim mer, ein scheußliches Exemplar aus Plastik mit elektrischen Kerzen. Kein Tannenduft, kein Kerzenschimmer. Wenn es nur wenigstens nicht obendrein so kalt wäre!
Das kleine südenglische Dorf, in das es mich verschlagen hat, liegt oben auf der Steilküste, und das Haus der Wherries steht ganz am Rand, schutzlos dem Wind von See her ausgeliefert. Die Gardine vor meinem Fensterchen schwebt waagerecht im Raum, so sehr zieht es durch den reparaturbedürftigen Rahmen.
Lautes Klopfen reißt mich aus meinem Selbstmitleid. Alle drei Jungen stürzen gleichzeitig zur Haustür, obwohl sie eigentlich Mittagsruhe halten sollen. Sie sind vier, fünf und sechs Jahre alt. Ich erkenne die Stimme des Postboten, der fast täglich um diese Zeit bei uns vorbeikommt, dazwischen das aufgeregte Geplapper von Keith, Brian und Peter. Getrappel auf der Treppe. Die Tür fliegt auf, und da stehen meine drei Schutzbefohlenen mit roten Wangen und blitzenden Augen: „A parcel for you, Ursel, from Germany!“
Sie sind genauso aufgeregt wie ich. Während ich die Schnüre löse und das Paket öffne, umringen sie mich und würden am liebsten mithelfen. Unter dem Packpapier kommt schönes deutsches Weihnachtspapier zum Vorschein. Und als das vorsichtig abgelöst und der Deckel geöffnet ist, liegt da zu oberst ein kleiner grüner Tannenzweig, mit Lametta und einer roten Schleife geschmückt. Behutsam nehme ich ihn her aus und rieche daran. Ja, das ist Weihnachtsduft, wie er schö ner nicht sein kann!
Tränen steigen mir in die Augen, und ich schlucke schwer. Die Jungen sind eher an dem Inhalt des Pakets interessiert. Was kommt da nicht alles zum Vorschein: Schwarzbrot, das ich hier so vermißt habe, ein Glas mit eingewecktem Grünkohl und, neben anderen Geschenken, natürlich Marzipankartoffeln, Nugat, Schokolade. Eben alles, wovon meine Mutter weiß, wie sehr ich es liebe. Gerne gebe ich davon ab. Für mich ist das schönste Weihnachtsgeschenk der kleine grüne Tannenzweig mit seinem einmaligen Duft.
Nachtrag

In England gibt es keinen Heiligen Abend wie bei uns in Deutschland. Die Bescherung findet am ersten Weihnachtstag statt. Den Kindern wird erzählt, daß „Father Christmas“ die Geschenke durch den Kamin wirft. Der zweite Weihnachtstag ist der „Boxing Day“. Dann werden alle Kartons (boxes), Verpackungen usw. zusammengesammelt und entsorgt. Ich als „mother’s help“ war hauptsächlich damit beschäftigt, das Weihnachtsessen, einen riesigen Puter, zuzu bereiten. Aber ich habe von Mr. und Mrs. Wherry einige nette Geschenke bekommen.
Als gebürtige Australier gingen die Wherries bereits im Frühjahr 1957 in ihre Heimat zurück und wollten mich zu meiner Freude für zwei bis drei Jahre mitnehmen. Aber das haben meine Eltern nicht erlaubt. Ich habe mir dann für die restliche Zeit eine neue Stelle als au-pair-Mädchen gesucht. Kontakt nach England halte ich heute noch. Eine Freundin hat dort ihren Mann kennengelernt und lebt seitdem in Eng land. Ich besuche sie alle zwei Jahre.

Unvergessene Weihnachten Band 9
Zeitgut Verlag Berlin
Preis: 8,90 Euro
ISBN: 978-3-86614-223-7
ACHTUNG: Alle Zeitgut-Bücher werden bis Ende 2025 kostenfrei versendet!
Zeitgut-Weihnachtsgeschichte: Der Tannenzweig
... von Ulla Punke
Veröffentlicht am {DATE:d.M.Y : DE} unter dieser Internetadresse: http://www.genussmaenner.de/index.php?aid=89352