Alle Jahre wieder bieten wir Ihnen in Zusammenarbeit mit dem Zeitgut-Verlag auch diesmal stimmungsvolle Weihnachtsgeschichten. Lebendige Originalfotos und Illustrationen runden diese ergreifenden Geschichten aus der Buchreihe "Unvergessene Weihnachten" ab.
(Hirschau bei Reichling/Lech, Bayern; 1945) Meine Mutter war Ende 1941 einem Aufruf der Stadt München gefolgt, Soldatenfrauen mit Kindern, die in der Stadtmitte wohnten, könnten sich evakuieren lassen.
Wir wurden dem Ort Reichling am Lech, siebzig Kilometer von München entfernt, zugewiesen. Noch einmal drei Kilometer von dort entfernt, in der Hirschau am Lech, lag ein Gutshof mit Gastwirtschaft, wo der Bürgermeister uns und andere Flüchtlinge in einem Nebengebäude einquartierte. Bei der Verteilung der Wohnungen wurde uns beiden ein großes Zimmer zugeteilt. Die andere, immerhin fünfköpfige Familie bekam zweieinhalb Zimmer. So hatte ich außer dem Gastwirtssohn Rupert drei weitere Spielgefährten.
Mein Papa kam nach seinem Lazarettaufenthalt in Dänemark im Sommer 1945 heim. Ich kann mich noch genau daran erinnern, als wäre es heute. Wir Kinder spielten gerade im Wirtsgarten unter den Kastanienbäumen, als ein Mann auf uns zukam. Meine Freunde schrien: „Walter, dein Papa kommt!“
Ehe ich mich umdrehen konnte, hatte er mich schon hochgehoben und fest an sich gedrückt. Auch ich wußte sofort, das ist mein Papa, zumal Mama mir oft genug sein Foto gezeigt hatte. Die Freude war so groß, daß ich ihm einen Kuß gab und ihn immer wieder umarmte.
Weihnachten stand vor der Tür, und nun konnten wir das Fest zum ersten Mal gemeinsam feiern. Während ich schlief, stellte mein Papa in den Nachtstunden zum Heiligen Abend hinter einem aufgespannten Bettuch den Christbaum auf und schmückte ihn, damit ich am Morgen davon überrascht würde. Doch einige wenige Geräusche ließen mich wach werden. Ich sah Schattenspiele hinter dem Bettuch, und obwohl erst sechs Jahre alt, wußte ich sofort, was da los war. Ich rührte mich aber nicht, weil ich Papa beim Schmücken des Baumes nicht stören wollte.
Von diesem Moment an wußte ich, daß nicht das Christkind, sondern die Eltern den Weihnachtsbaum und sicher auch die Geschenke kaufen. Aber ich war nicht enttäuscht. Es ist doch egal, dachte ich, wo der Baum und die Geschenke herkommen, die Hauptsache ist, Weihnachten läuft nicht ohne Gaben ab.
So war es auch. Papa schenkte mir am Heiligen Abend einen großen Holzbaukasten. Doch die Freude hielt nicht lange an. Als er am nächsten Tag für einige Stunden außer Haus war, nutzte Mama die günstige Gelegenheit. So viele Holzbauklötze brauche ich doch nicht, meinte sie. Ich könne dem Sohn unseres Hausherrn einige Bausteine abgeben, schlug sie vor, und dafür würde sie ein paar Eier und ein Pfund Butter eintauschen. Murrend und schweren Herzens gab ich ungefähr die Hälfte von dem Holzbaukasten her. Mama eilte sofort zur Bäuerin, ehe ich’s mir anders überlegte, und kam wenig später mit Eiern und Butter zurück. Gott sei Dank hatte Papa von dieser Aktion nichts gemerkt, der Handel hätte sonst nicht stattgefunden.
Einen Tag später war der Bub mit seiner Mutter bei uns und diese beschwerte sich, ihr Rupertl könnte die Kirche nur ohne Kirchturm bauen und für die Häuser seien lediglich die Dächer vorhanden.
Meine Mama schaute ungläubig drein und antwortete nach längerem Überlegen: „Dann kann mein Bub ja auch kein komplettes Dorf aufbauen. Wie lösen wir das Problem?“
Die Eier, teilte sie mit, seien schon gegessen und von der Butter sei auch nicht mehr viel übrig.
Wir sollten alle Bausteine hergeben, forderte darauf die Bäuerin, ich könne ja damit zusammen mit ihrem Buben spielen. Dort hätten wir ja auch mehr Platz.
Mit tränenden Augen rückte ich die mir gebliebenen Bausteine auch noch heraus. Ich war sehr traurig und fand, dies sei die schlechteste aller Lösungen. Aber es half nichts. Zum Trost bekamen wir noch einige Eier, damit war der Handel perfekt. So schnell waren sich die beiden Mütter einig, und ich hatte das Nachsehen!
Fortan ging ich in Rupertls Bauernstube zum Spielen. Ein schlechtes Gewissen hatte Mama aber doch. So erklärte sie mir, wir lebten in einer schlechten Zeit, wo gute Lebensmittel wie Eier und Butter notwendiger seien als Bauklötzchen. Aber jetzt würde doch alles viel besser. Der Krieg sei zu Ende und der Papa sei auch wieder da. In Zukunft, versprach sie mir, bekäme ich viele, viele Geschenke, nicht nur zu Weihnachten.
„Und die größte Überraschung ist doch für uns“, schloß sie, „daß Papa eine neue Wohnung im Ort für uns besorgen wird.“
So war der Weihnachtsfrieden wieder hergestellt.
Es dauerte aber noch lange zweieinhalb Jahre, bis wir endlich ein eigenes Zuhause im Ort bekamen – zu viele Flüchtlinge und Evakuierte waren in Reichling aufgenommen worden. Unser größtes Glück erlebten wir aber 1951, als wir endlich wieder in unser geliebtes München ziehen konnten, wo sich meine Eltern eine neue Existenz aufbauten.
Unvergessene Weihnachten Band 6
Zeitgut Verlag Berlin
Preis: 8,90 Euro
ISBN: 978-3-86614-165-0
Zeitgut-Weihnachtsgeschichte: Der geteilte Holzbaukasten
... von Walter Unrecht
Veröffentlicht am: 18.12.2024
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