Viel Lärm ums Brot

Das traditionelle Roggenbrot nimmt in Estland einen wichtigen Stellenwert ein


Esten und Deutsche haben vieles gemeinsam: Die EU-Mitgliedschaft, die Geschichte der Hanse, den Ursprung zahlreicher Wörter – und die Liebe zum Brot. Für beide Nationen ist das Brot eines der wichtigsten Nahrungsmittel überhaupt, das auf der Liste der Dinge, die bei Auslandsaufenthalten vermisst werden, ganz weit oben rangiert.

In Estland ist Brot Synonym für das traditionelle Roggenbrot und steht sinnbildlich für Heimat, Liebe und Vaterland. Leib, das estnische Wort für Schwarzbrot, hat sich zum Sammelbegriff für sämtliche Speisen auf dem Tisch etabliert. So wünscht man sich in Estland „Jätku leiba“ – möge das Brot ausreichen. Und eine Mahlzeit ohne Brot ist in Estland keine ernstzunehmende Mahlzeit.

Seit über 1000 Jahren wird im nordischen Estland Roggen angebaut, bis heute ist das Getreide ein wichtiger Bestandteil der dortigen Landwirtschaft. Das Brot selbst ist dabei zentraler Bestandteil der estnischen Kultur, entsprechend viele Sprichwörter, Mythen und Bräuche ranken sich um die knusprige Leckerei.

Fällt ein Stück Brot auf den Boden, muss es umgehend aufgehoben und geküsst werden, um eine Hungersnot zu vermeiden.  Auch darf Brot nicht mit der Kruste nach unten gelegt werden, sonst kommt der Hunger ins Haus. Wer hingegen die letzte Scheibe eines Brotlaibs bis Weihnachten aufhebt, kann sich auf eine gute Ernte freuen. Mädchen soll der Genuss von runden Brotenden sogar eine üppige Oberweite bescheren.

Früher wie auch zunehmend heute haben die Menschen ihr Brot selbst gebacken, um sichergehen zu können, dass die Zutaten frisch, regional und von hoher Qualität sind. Es werden lediglich Wasser, Roggenmehl, Salz, Zucker und Sauerteig benötigt, Samen, Nüsse oder Früchte können nach Belieben hinzugefügt werden. Die wichtigsten Zutaten sind jedoch Liebe und Geduld – die Zubereitung des Brots dauert über 12 Stunden. Dennoch backen viele Esten täglich frisches Brot.

Das Brot ist für die Esten sogar von so großer Bedeutung, dass jedes Jahr Mitte September der Tag des Brots gefeiert wird. Von der Ernte des Getreides über die Zubereitung bis hin zu einer Verkostung können die Gäste alles rund um das Laib des Glücks lernen. In diesem Jahr wird der „Tag des Brots“ im Rahmen eines Herbstmarktes im Estonian Open Air Museum am 15. September begangen.

Es ist nicht weiter verwunderlich, dass die Dichte an Bäckereien im ganzen Land riesig ist. In Tallinn sind beispielsweise die Røst-Bäckerei mit skandinavischen Einflüssen, die Bäckerei und Metzgerei Kotzebue, die vor allem für ihr Sauerteiggebäck berühmt ist  oder die Bäckerei Karjase Sai besonders empfehlenswert. In Tartu stellt die Familienbäckerei Saiasahwer neben Brot auch köstliches Gebäck her, während im Cafe Leivakas in Pärnu außer Brot auch Pizza aus dem Ofen kommt. Ein absolutes Muss ist ein Abstecher in die Heimat des berühmten Muhu Leibs auf der gleichnamigen Insel.

Wer sich nicht mit einem Laib als Souvenir begnügen möchte, kann die hohe Kunst des estnischen Brotbackens selbst erlernen. Interessante Führungen und Workshops werden im ganzen Land angeboten. Spannende Einblicke bietet beispielsweise ein Besuch der letzten noch funktionierenden Wassermühle in Estland. Ist die Mühle erst einmal in Gang gesetzt, können die Teilnehmer unter fachkundiger Anleitung Brot backen wie anno dazumal, und ihr noch warmes Werk anschließend mitnehmen.

Auch in der Backstube Nõva im gleichnamigen Ort sowie am Ufer des Peipussees können Brotliebhaber im Rahmen von Workshops in die estnische Backkunst eintauchen.

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