Zeitgut-Weihnachtsgeschichte: Die weitgereiste Weihnachtsgans

... von Elisabeth Schmack



Alle Jahre wieder bieten wir Ihnen in Zusammenarbeit mit dem Zeitgut-Verlag auch diesmal stimmungsvolle Weihnachtsgeschichten. Lebendige Originalfotos und Illustrationen runden diese ergreifenden Geschichten aus der Buchreihe "Unvergessene Weihnachten" ab.

(Mühlhausen – Gotha – Georgenthal, Thüringen; Mitte der 70er Jahre) Es war Mitte der siebziger Jahre. Das erste gemeinsame Weihnachtsfest mit meinem Mann Werner stand bevor. Werner wohnte in Georgenthal und ich in Mühlhausen. Wir hatten beschlossen, das Fest bei ihm zu verbringen, da es in der schönen thüringischen Umgebung von Georgenthal sicher festlicher sein würde, als in der Stadt.

Gleich hinter dem Haus, in dem Werner wohnte, lag ein Wäldchen, die „Aue“ genannt. Von hier aus konnte man bequem bis in den Thüringer Wald wandern.

Wir hatten alles genau abgesprochen. Den Festtagsbraten wollte ich besorgen, denn ich glaubte, eher an eine Gans zu kommen, weil wir in der Brückenstraße ein Geflügelgeschäft hatten, in dem ich schon oft gute Sachen eingekauft hatte. Doch als ich ein paar Tage vor Heiligabend dort vorsprach, hieß es: „Nur auf Vorbestellung“. Als ich vorbestellen wollte, sagte man mir, daß es dafür schon zu spät sei. Die Bestellisten wären schon weg und darüber hinaus gab es keine Zuteilung. So da stand ich da. Auch die Lauferei in Konsum- und HO-Läden blieb erfolglos. Die wenigen Tiefkühltruhen waren schon leer. Was nun?

Das erste gemeinsame Weihnachtsfest! Ich wollte glänzen und mich nicht blamieren. Eine Arbeitskollegin verstand mein Desaster. Sie verschaffte mir tatsächlich eine Gans von ihren Eltern, die auf dem Dorf wohnten und Geflügel hielten. Gerupft und ausgenommen, verpackte ich sie in einen stabilen, grauen Karton. So gut verpackt, ging der Vogel nach der Arbeit am frühen Heiligabend mit mir auf die Fahrt nach Georgenthal.

Ohne lästiges Umsteigen konnte ich von mir zu Werner mit der Bahn reisen. Damals befuhr noch eine Dampflok die Strecke von Leinefelde bis Arnstadt. Der Zug war wie immer nach Arbeitsschluß brechend voll. Doch je weiter der Zug sich von der Kreisstadt entfernte, um so mehr leerte er sich. Bei jedem Halt hatte ich ein Auge auf den Karton. In Gotha, wo der Zug länger hielt, stiegen die meisten Reisenden aus. Auf dem Bahnsteig wimmelte es nur so vor Menschen, und ich sicherte mir schnell einen Fensterplatz.

Als die Lok mit Gestampf, Gezisch und schrillem Pfiff ihre Wagen aus dem Bahnhof zog, war die Menschentraube noch immer auf dem Bahnsteig. Jetzt sah ich erst: Es waren Hobbyfotografen, die in allen möglichen Stellungen – stehend, kniend und sogar liegend – versuchten, die Lok auf ihre Filme zu bannen. Mit fast verzückten Gesichtern schauten sie dem ausfahrenden Zug nach. Später erfuhr ich, daß es eine der letzten Dampfloks war, die diese Strecke befuhr. Sie wurde von einer der schweren russischen Dieselloks abgelöst.

Ich blieb allein im Abteil, über mir im Gepäcknetz die Gans im Karton, vor dem Fenster die herrlichste Winterlandschaft und in mir die Freude aufs Wiedersehen ...

An den wenigen Haltestellen, die noch kamen, stieg kaum jemand zu. Ich träumte vor mich hin, und da fuhr der Zug auch schon in den Bahnhof Georgenthal ein. Von weitem sah ich Werner am Bahnsteig. Ich konnte es kaum erwarten und beeilte mich mit dem Aussteigen. Erst die innige Begrüßung, dann nahm Werner mir das Gepäck ab, und wir stapften durch den Schnee der Wohnung zu.

Das Rattern des Zuges war längst in der Ferne verklungen, da durchfuhr es mich heiß: Wo ist der Karton? Vielleicht auf dem Bahnsteig stehengeblieben?
Also wieder zurück. Das Schneetreiben wurde dichter. Der Bahnsteig war leer.

Im Bahnhofsgebäude war noch ein Fenster erleuchtet. Der Beamte, der gehofft hatte, seine Ablösung wäre gekommen, reagierte ärgerlich. Er brummte was von Leichtsinn, gerade im Feiertagsverkehr, und nahm mit verbissener Miene die Befragung auf. Erst einmal den Ausweis. Dann ging es los: Beschreibung des Gepäckstückes, die Waggonnummer, welches Abteil, welcher Sitzplatz. Dann auch noch Anfang und Ziel der Reise, warum und wieso und noch einiges mehr.
Mir dauerte das alles viel zulange. Ich fragte, warum er denn nicht einfach bei der nächsten Haltestelle anrufen könne. So wäre eben die Vorschrift, meinte er mürrisch. Er machte uns gleichzeitig auf einen eventuellen Verlust aufmerksam; schließlich würden ja noch Fahrgäste aus- oder einsteigen. Ich hatte den stillen Verdacht, daß er die Suchmeldung gar nicht weiterleiten würde – ade, Weihnachtsbraten!

Werner sah wohl meine Enttäuschung. „Wir improvisieren das morgige Festessen, wirst schon sehen, irgend etwas ist doch immer im Haus.“

Es war lieb gemeint, doch kaum ein Trost für mich. Mir spukte die schöne Gans immerzu im Kopf rum. Ich ärgerte mich vor allem über mich selbst. Hatte ich nicht die ganze Fahrt über auf die Gans bzw. den Karton geachtet? Warum entschwand sie dann, als es darauf ankam, meinen Sinnen?

Selbst die Christmesse, die wir abends besuchten, konnte ich trotz der festlichen Ausgestaltung nicht so recht genießen. Erst der Heimweg brachte mir ein wenig innere Ruhe. Die hohen, hellerleuchteten Kirchenfenster, deren Schein den frischgefallenen Schnee glitzern ließ, dazu die Lieder des Posaunenchores, die uns, immer leiser werdend, bis nach Hause begleiteten, versetzten mich endlich in eine fast märchenhafte Stimmung.

Es hatte aufgehört zu schneien, die Schneedecke war noch unberührt. Doch im Hof war sie durch eine Fahrradspur durchbrochen, die bis zur Haustür führte. Dort stand ein Eisenbahner, der gerade dabei war, einen Karton vom Gepäckträger zu heben. „Ach, da sind Sie ja ... Fröhliche Weihnachten!“
Und weg war er. Auf dem Karton war in großen roten Buchstaben vermerkt: BAHNHOF ARNSTADT, FUNDSACHE. Stempel und Unterschrift waren vom Schnee verwischt.

Am nächsten Tag stand die weitgereiste Gans knusprig und fettglänzend, zusammen mit den Thüringer Klößen, auf dem Tisch.



Unvergessene Weihnachten Band 5

Zeitgut Verlag Berlin 
Preis: 8,90 Euro
ISBN: 978-3-86614-146-9

Foto: Wolfgang Nolte, Göttingen

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