Nun kehrt langsam wieder Normalität ein – die Feierlichkeiten, die unzähligen Beiträge in allen Medien zum 30. Jahrestag der Öffnung der Grenze zwischen Ost- und Westberlin sind vorbei. Vorbei sind auch die zumeist weniger klugen Reden, die vom Mauerfall, die von „den DDR-Bürgern“ handelten.
Ganz ehrlich ich konnte das ganze Geseiere, dieses nahezu stereotype Wiederholen von Worthülsen nicht mehr ertragen. Ich konnte vor allem nicht ertragen, wenn von den rund 16,4 Millionen Menschen, die 1989 auf dem Gebiet der DDR wohnten, immer von „den DDR-Bürgern“ gesprochen wurde. Ich war sicher ein anderer DDR-Bürger als mein Nachbar, der NVA-Hauptmann.
Und noch eines regte mich auf: Wenn man behauptet, dass in der DDR alles von der SED vorgegeben wurde, man sich um nichts kümmern musste. Ganz oben auf der Palme bin ich zu finden, wenn im gleichen Atemzug davon die Rede ist, dass in der DDR Mangelwirtschaft herrschte. Das mit der Mangelwirtschaft stimmte ja in sehr weiten Teilen. Doch wie soll man in einer Mangelwirtschaft klar kommen, wenn man sich nicht kümmert. Als DDR-Mensch musste man sich viel mehr um seine Dinge kümmern, als man sich das heute noch vorstellen kann.
Die meisten DDR-Bürger gehörten zu den Jägern und Sammlern. Das kann man ja bedauern, das kann man kritisieren und das trieb immer wieder die Menschen dazu, das Land verlassen zu wollen oder sich Dinge „hinten herum“ – man nannte das gern „sozialistisch umlagern“ – oder gegen D-Mark zu besorgen.
Das hatte aber eine Folge, von der ich bei all den Reden in den vergangenen Tagen, aber auch davor noch nie gehört habe. Hat man etwas ergattert, hat man lange Gesuchtes doch bekommen, gab es etwas, womit man eigentlich gar nicht gerechnet hat, kam ein Westpaket oder hatte man einige D-Mark, passierte etwas mit den Menschen. Sie wurden glücklich, ihr Gehirn schüttete das Glückshormon Dopamin aus. Ich lehne mich so weit aus dem Fenster zu behaupten, wir in der DDR so etwas wie dopaminsüchtig waren. Warum? Es war ja gar nicht so selten, dass man – wie auch immer – etwas bekam, wonach man lange suchte, worum man lange gekämpft hatte.
Und heute? Wann schüttet unser Gehirn heute Dopamin aus? Wenn man einen Auspuff für sein Auto bekommen hat, wenn es die Fliesen in der Lieblingsfarbe gibt, wenn ein Päckchen von der Oma aus Ulm in Dresden mit Kaffee, einer Kinderüberraschung und Strumpfhosen ankommt? Ja, auch heute müssen viele Leute kämpfen – um einen Job oder einen besseren, um eine Wohnung, um einen Kitaplatz, um mehr Gehalt. Doch im Alltag – worum kämpft man da?
Nein, unser Gehirn hat heute – zumindest aus meiner Sicht – viel weniger Gelegenheit Dopamin auszuschütten. Was heißt das nun? Für mich heißt das, dass man den dopaminsüchtigen DDR-Bürgern etwas genommen hat. Die absolute Verfügbarkeit von fast allem ist dafür genau so ein Ersatz wie für einen Alkoholiker ein Glas Milch.
Nicht dass ich die Mangelgesellschaft wieder haben will – da sei Gott vor – aber wir sollten in dieser Gesellschaft alle mal darüber nachdenken, wie wir so zusammenleben, wie wir unser Leben so gestalten können, dass unser Hirn es nicht mal völlig verlernt, Dopamin auszuschütten. Menschen, die das fast nicht mehr kennen, sind permanent unzufrieden. So etwas kann sich ganz sicher aufschaukeln – mit ganz sicher dramatischen Folgen für den Einzelnen und die gesamte Gesellschaft.
Wir brauchen einfach mehr Glücksmomente. Da es keine SED mehr gibt, die für solche bei DDR-Bürgern ganz sicher nicht bewusst gesorgt hat, müssen wir selber wieder etwas für unsere Glücksmomente tun.
Ich habe so einen Glückmoment jeden Tag – wenn ich die Beste Frau der Welt mit einem Kaffee aus dem Bett locke.
Ich wünsche Ihnen ein wirklich genussvolles Sonntagsfrühstück.
Foto: Pixabay
Morgengruß von Helmut Harff: Unbefriedigte Lust
… oder die Jagd nach Dopamin
Veröffentlicht am: 10.11.2019
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