
Alle Jahre wieder bieten wir Ihnen in Zusammenarbeit mit dem Zeitgut-Verlag auch diesmal stimmungsvolle Weihnachtsgeschichten. Lebendige Originalfotos und Illustrationen runden diese ergreifenden Geschichten aus der Buchreihe "Unvergessene Weihnachten" ab.
(Spaichingen, Landkreis Tuttlingen, Baden-Württemberg; 1996; Bastogne, Ardennen, Belgien; Heiligabend 1944) Meine Zeit als Referendar war nur vorübergehend, die Erinnerung an eine Unterrichtsstunde blieb. Im Dezember 1996 unterrichtete ich am Gymnasium in Spaichingen eine 10. Klasse in Geschichte. Die Epoche hätte unweihnachtlicher nicht sein können – der Zweite Weltkrieg.
Die hellflackernden Kerzen am Adventskranz bildeten einen völligen Gegensatz zu den grausamen Bildern und Filmen über diese Zeit. Zum Abschluß hatte ich einen Zeitzeugen in der Hoffnung eingeladen, er könnte den Schülern Antworten geben, die ich nicht geben konnte. Er war seinerzeit Mitte siebzig, zeigte sich erfreut über die Einladung, und als er zu uns kam, hatte er seinen besten Anzug angezogen.
Wir schoben die Tische an die Wand und setzten uns in einen Kreis, das Gespräch sollte ungezwungen sein. Da saß er nun, der Mann, der das alles miterlebt hatte und Fragen beantworten sollte. Alt war er, aber nicht müde. Er erzählte, wie er seinen Einberufungsbescheid zur Wehrmacht bekommen hatte, wie er nach einer kurzen Ausbildung an die Ostfront kam und kurz darauf an die Westfront versetzt wurde, das war im Herbst 1944. Er mußte an der Ardennenoffensive teilnehmen, sie begann am 16. Dezember. Schon war er dabei, das Leben an der Front zu beschreiben, da unterbrach ihn eine Schülerin unvermittelt und fragte: „Wo waren Sie an Heiligabend?“
Kurz stockte der Mann und es schien, als hätte ihn die Frage überrascht. Für einen Moment schloß er die Augen. Die Klasse wartete und er begann eine Geschichte zu erzählen, die ich nie vergessen habe:
„Den Heiligabend des Jahres 1944 verbrachten wir in der Nähe der belgischen Stadt Bastogne und keinem von uns war zum Feiern zumute. Tagelang hatten wir in heftigen Kämpfen dichten und tiefverschneiten Wald durchquert, manchmal bei minus zwanzig Grad. Wir waren erschöpft und ausgemergelt. Aber wir hatten das Glück, zumindest den Heiligabend nicht draußen in der nahegelegenen Feuerstellung verbringen zu müssen. Für wenige Stunden konnten wir uns ausruhen und wärmen. Wir stießen auf einen größeren Kellerraum eines teilweise zerstörten Bauernhofs.
Seit Mitte Dezember befanden wir uns auf dem Vormarsch der Ardennenoffensive, waren aber kurz vor Bastogne zum Stehen gekommen. Die dort eingeschlossenen US-amerikanischen Kräfte wehrten sich beharrlich. Pausenlos wurde geschossen. Die Hoffnung, noch einmal heil aus diesem Inferno zu kommen, hatte kaum einer von uns an dem Fest, das doch wie kein anderes für die Hoffnung stand. Für viele war es das letzte Weihnachten, und sie ahnten es.
In unserem Abschnitt war am 24. Dezember nicht viel los, aber das Geknatter von Maschinengewehren und das Detonieren von Granaten riß die ganze Nacht nicht ab. Der Raum wirkte leer und war halbdunkel, es war uns gleichgültig. Einer nach dem anderen stolperte herein, Mannschaften, Unteroffiziere und Offiziere, es gab keinen Unterschied mehr. Die Kämpfe der letzten zwei Wochen hatten ihre Spuren in unseren Gesichtern und an den Uniformen hinterlassen. Seit vielen Tagen waren wir nicht mehr aus unserer Kleidung herausgekommen. Schweiß hatte die kratzigen Holzfasern unserer Unterwäsche geschmeidig gemacht, und wir spürten sie schon lange nicht mehr. Wir hatten uns nichts mehr zu erzählen, das ununterbrochene Zusammensein in den zurückliegenden Wochen hatte nichts mehr übriggelassen.
Gewehre wurden akkurat an die Wand gelehnt, Patronengurte und Helme wurden abgenommen und davor gelegt, korrekt nebeneinander, ordentlich, militärisch, wie wir es gewohnt waren. Wir siezten uns und wir duzten uns durcheinander, wir machten ein Feuer in einem alten Ofen. Alle waren wir erleichtert, zum ersten Mal seit zwei Wochen wieder ein wärmendes Dach über dem Kopf zu haben. Alles nutzten wir als Sitzgelegenheit: einen umgedrehten Blecheimer, einen Stapel Holz, ein ramponiertes Feldbett. Niemand sprach.
Ein zerknülltes Päckchen Zigaretten machte die Runde, nach und nach entflammten Streichhölzer und beleuchteten beim Anzünden die unrasierten hohlwangigen Gesichter, selbst die jüngeren unter uns sahen zerfurcht aus. Mancher dachte an Heiligabend in der Heimat, schloß die Augen und sah seine Frau und seine Kinder, wie sie die Kerzen am Weihnachtsbaum anzündeten. Wir alle wollten für heute nichts mehr sehen und nichts mehr hören.
Die quietschende Kellertür unterbrach unseren Dämmerschlaf. Es war die Langsamkeit und Vorsichtigkeit, mit der sie aufgemacht wurde, die uns aufschrecken ließ. Alarmiert sprangen wir auf, einer stülpte sich seinen Helm über, andere luden ihre Pistole, einen Karabiner und eine Maschinenpistole durch. Längst war das für jeden von uns Routine. Wir trauten unseren Augen kaum: In der Tür stand ein kleines Mädchen, eingepackt in ein zugeknöpftes Mäntelchen. Es trug winzige Fausthandschuhe und hatte eine Mütze auf, die über die Ohren reichte, aber darunter kamen ihre langen hellbraunen Haare zum Vorschein.
Vor uns, den Soldaten mit Waffen in den Händen, hatte die Kleine keine Angst. Überhaupt hatte sie keine Ahnung, daß sie sich gerade in große Gefahr gebracht hatte. Ihr Alter konnten wir nur grob schätzen, vielleicht fünf, vielleicht auch sechs Jahre.
Die Kleine musterte uns, sie schien solche Anblicke gewohnt zu sein, seit Jahren herrschte Krieg. Sie sah sich um, als würde sie etwas suchen. Dann zog sie sich die Fausthandschuhe aus und warf sie achtlos auf den Boden. Einer hob sie auf und schob sie ihr in die beiden Taschen des Mäntelchens. Das Mädchen bemerkte es nicht einmal, so eifrig sah sie im Raum umher.
Dann fiel ihr Blick auf den Boden, und sie fand, was sie gesucht hatte. Der Boden war überdeckt mit Stroh, der Raum mußte wohl einmal als Stall gedient haben. Die kleinen dunkelbraunen Augen des Mädchens begannen zu leuchten. In der Mitte des Raumes kniete sie nieder, und ihre winzigen Kinderhändchen langten neben einen Soldatenstiefel, der riesig wirkte. Sie nahm einen Strohhalm und einen zweiten und sammelte weitere, bis ihre Hände voll waren. Schweigend schauten wir ihr zu. Die Kleine trug das Stroh zu einem Schemel in der Nähe des Ofens. Dort legte sie einzelne Halme aufeinander. Da rief sie schließlich voller Freude aus: „Une étoile!“– ein Stern!
Das Mädchen ging zurück und sammelte noch mehr Halme für einen zweiten Stern. Da lehnte einer von uns sein Gewehr an die Wand. Er nahm Zwirn und eine kleine Schere aus seinem Nähzeug – das hatte jeder Soldat bei sich – und er begann, die Strohhalme auf gleiche Länge zurechtzuschneiden. Die Kleine sah ihm überrascht in die Augen und nahm ihm die Strohhalme aus der Hand, legte sie wiederum sternförmig zusammen. Spontan legte sie die Strohhalme in seine Hände, er band den Zwirn darum, und ein weiterer kleiner Strohstern war entstanden.
Ein anderer Soldat legte seine Waffe ab, bückte sich, sammelte Halme vom Boden auf, nahm eine alte Holzkiste, stellte sie an den Schemel und setzte sich. Einer nach dem anderen, auch ich, legte seine Waffe ab.
Da waren wir, diese abgekämpften, erschöpften Männer mit zerschundenen Uniformen und formten Strohsterne, mit unseren von Kälte und Eis aufgerissenen schmutzigen Händen, zusammen mit einem kleinen Mädchen, das wir gar nicht kannten. Das Mädchen stimmte mit ihrer hellen klaren Stimme ein Weihnachtslied an. Sie sang es in die Nacht hinaus. Leise knisterten die Holzscheite im Ofen.“
In der Klasse war es still, als unser Zeitzeuge geendet hatte.

Unvergessene Weihnachten Band 13
Zeitgut Verlag Berlin
Preis: 8,90 Euro
ISBN: 978-3-86614-275-6
ACHTUNG: Alle Zeitgut-Bücher werden bis Ende 2025 kostenfrei versendet!
Zeitgut-Weihnachtsgeschichte: Der Weihnachtsstern von Bastogne
... von Christian Metzner
Veröffentlicht am: 23.12.2025
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