„Die ich rief, die Geister Werd’ ich nun nicht los.“ So wie Goethes Zauberlehrling mag sich auch der eine oder andere Chef der internationalen Automobilindustrie fühlen. Gerät den Top-Managern der Dieselskandal, der im September 2015 mit Volkswagen seinen unrühmlichen Anfang nahm, möglicherweise außer Kontrolle?
Das wäre schlecht für das Ansehen der Hersteller, um das es ohnehin nicht zum Besten bestellt ist, und schlecht für die Akzeptanz eines Motors, ohne den die ambitionierten nationalen und europäischen Klimaschutzziele noch lange nicht zu erreichen sein werden.
Jetzt hat auch die oberste deutsche Justiz Volkswagen die gelbe Karte gezeigt: Der Bundesgerichtshof, der sich in einem Revisionsverfahren erstmals mit den manipulierten Dieselmotoren der Baureihe EA 189 befasst hat, sprach das Wolfsburger Unternehmen heute der sittenwidrigen Schädigung und arglistigen Täuschung für schuldig (AZ VI ZR 252/19) und folgte damit im Wesentlichen dem Urteil des vorinstanzlichen Oberlandesgerichts Stuttgart. Der Senat unter Vorsitz von Richter Stephan Seiters entschieden, dass VW das Auto des geschädigten Sharan-Käufers Herbert Gilbert aus Gebroth gegen Erstattung des Kaufpreises und unter Anrechnung der zwischenzeitlich gefahrenen Kilometer zurücknehmen muss. VW hatte dies in dem Prozess zu verhindern versucht.
Gleichzeitig wiesen die Richter die Forderung des VW-Kunden zurück, für die Nutzung des Fahrzeugs keine Entschädigung zahlen zu müssen. Der Kläger hatte das gebrauchte Fahrzeug im Januar 2014 bei einem freien Händler für 31.490,00 Euro erworben. Das BGH sprach ihm heute unter Anrechnung der Nutzung zuzüglich Zinsen 25.600 Euro zu. Das Grundsatzurteil der Karlsruher Richter hat Signalwirkung, an dem sich untere Instanzen orientieren werden.
Ein Schelm, wer Böses dabei denkt: VW hatte sich kurz vor Beginn des BGH-Prozesses im Zuge einer Musterfeststellungsklage mit 230.000 betroffenen Kunden auf einen Vergleich verständigt. Für sie ist der strapaziöse Vorgang Dieselskandal damit ein für alle Mal ad acta gelegt. Doch in Anbetracht des BGH-Urteils hoffen nun wohl viele der gut 30.000 Autobesitzer, die sich gegen einen Vergleich entschieden haben, mit Einzelklagen am Ende finanziell viel besser dazustehen.
Verbraucheranwälte und Prozessfinanzierer bestärken sie nicht ganz uneigennützig in dieser Erwartung. Darüber hinaus sind nach Angaben der Kanzlei Goldstein und Partner in Potsdam bundesweit noch mehr als 70.000 Dieselklagen von VW-Kunden anhängig. Ob die Kalkulation der betroffenen VW-Kunden wirklich aufgeht, ist jedoch fraglich. Schließlich werden die meisten Kläger ihre Entschädigung in den Kauf eines neuen Autos investieren. Ihren Skandal-Diesel sind sie allerdings los.
Von weit größerer Tragweite für die gesamte Branche könnte indes das Urteil in einem Prozess sein, der beim Europäischen Gerichtshof (EuGH) anhängig ist. Die Richter in Luxemburg befassen sich damit, ob und – wenn ja – unter welchen Voraussetzungen Abschaltvorrichtungen europäischem Recht entsprechen. Die Frage ist vor allem deshalb brisant, weil Abschaltvorrichtungen ein wichtiger Bestandteil des Motormanagements auch der Dieselaggregate jüngster Generation sind. Je nach Temperatur, Luftdruck, Geschwindigkeit, Drehzahl, Gang, Unterdruck im Einlasskrümmer und anderer Parameter sorgen sie dafür, dass der Motor einwandfrei läuft und keinen Schaden nimmt.
Für Generalanwältin Eleanor Sharpston aus Großbritannien ist die Antwort auf die Grundsatzfrage klar. Vor dem EuGH stellte die Juristin in ihrem Plädoyer fest: „Laut der EU-Verordnung zur Typgenehmigung für Fahrzeuge nach den Abgasnormen Euro 5 und Euro 6 sind Abschalteinrichtungen grundsätzlich verboten.“ Ausnahmen seien nur zulässig, wenn der Motor vor unmittelbaren und plötzlichen Schäden geschützt werde. Langfristige Auswirkungen wie Abnutzung oder Wertverlust zählten nicht dazu.
Sollte der EuGH der strengen Auslegung seiner Generalanwältin folgen, sehen Verbraucheranwälte auf die gesamte Automobilindustrie „Rückruf- und Klagewellen sowie Strafen in Milliardenhöhe“ zukommen. Sie sagen, dass der Dieselskandal dann komplett neue Ausmaße annähme. Nach Ansicht von Oliver Krischer, Bundestagsabgeordneter von Bündnis 90/Die Grünen, seien dann auch die millionenfachen Software-Updates keine Lösung.
Selbst schuld! Das stimmt. Trotzdem bleibt zu hoffen, dass sich die Prophezeiungen der Anwälte und des Grünen-Politikers nicht erfüllen und VW als Beklagte die EuGH-Richter mit guten Gründen davon überzeugen kann, dass moderne Dieselmotoren die EU-Vorgaben sehr wohl erfüllen. Alles andere käme einer Katastrophe gleich.
Das Urteil des EuGH wird in Kürze erwartet. Den Luxemburgern Richtern wird nachgesagt, dass sie meist den Empfehlungen ihrer Generalanwälte und -anwältinnen folgen. Das mag stimmen, aber nicht immer. Die von der Bundesregierung geplante Pkw-Maut hatten die Richter im Juni vergangenen Jahres vom Tisch gefegt, obwohl Generalanwalt Nils Wahl zuvor anders plädiert hatte. Die Folge: Die Maut-Geister, die Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer einst rief, ist er bis heute nicht losgeworden.
Foto: Auto-Medienportal.Net/Strang