Als erste deutsche Institution zeigt die Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen das wegweisende Werk der 1948 in Tel Aviv geborenen Malerin, Psychoanalytikerin, Philosophin und Friedensaktivistin Bracha Lichtenberg Ettinger (BRACHA). In kleinen Ölgemälden, die in unbewussten Malprozessen über Zeiträume von bis zu acht Jahren entstehen, verwandelt BRACHA fotografische Zeugnisse, unter anderem von Gewalt gegen Frauen und Kinder während der Shoa, in Abbilder innerer Zustände, die sich über die Jahrzehnte hinweg sichtbar verändern.
Im Zentrum der Ausstellung stehen zwölf neueste Malereien, die teils erstmals das Atelier verlassen. Mit über 80 Arbeiten, darunter auch Einblicke ins Frühwerk der 1980er Jahre, wird in der Bel Etage des K21 ein einzigartiger Kunstentwurf anschaulich. Er verbindet Psychoanalyse und Malerei, ein feministisches Neudenken von Identität und Geschlechterverhältnissen, radikale Verletzlichkeit und die Hoffnung auf einen friedlichen Umgang mit Konflikten und vererbten Traumata
Bracha Lichtenberg Ettingers
Als Künstlerin ist Bracha Lichtenberg Ettinger Autodidaktin. Sie studierte zunächst Klinische Psychologie an der Hebräischen Universität in Jerusalem und zog 1976 nach London, wo sie mit dem Psychiater Ronald D. Laing lehrte und arbeitete. Nach ihrem Umzug nach Paris zeigte sie dort 1982 erstmals künstlerische Arbeiten. Bald wurden diese von großen Museen gesammelt und gezeigt, etwa dem Centre Pompidou in Paris oder dem Israel Museum in Jerusalem. In Deutschland war BRACHA unter anderem 1983 in der Berliner Philharmonie, 1984 in Düsseldorf und 1987 in Köln mit Aktionen und Ausstellungen präsent. Sie nahm weltweit an einflussreichen Gruppenausstellungen teil. Namhafte Theoretiker*innen widmeten ihrem Werk oft mehrere Essays, darunter Griselda Pollock, Jean-François Lyotard, Christine Buci-Glucksmann und Nicolas Bourriaud. Auszüge beispielhafter Essays sind im Katalog zur Ausstellung erstmals auf Deutsch zu lesen.
Dabei hörte Bracha Lichtenberg Ettinger nie auf als Psychoanalytikerin zu arbeiten. 1995 erschien ihr Buch „The Matrixial Gaze“ (Der matrixiale Blick), in dem sie eine Synthese von Ästhetik und Ethik entwickelt, die in mehreren Wissenschaften rezipiert wird, darunter Psychologie, Philosophie, Ökologie, Erziehungs- sowie Kunst- und Filmwissenschaften. Bracha Lichtenberg Ettinger lehrte an zahlreichen Universitäten. Sie ist Professorin an der European Graduate School in Saas-Fee, Schweiz und dem Global Centre for Advanced Studies in Dublin, Irland. Sie engagierte sich in Menschenrechtsorganisationen wie „Physicians for Human Rights“, „Women Wage Peace“ oder dem „Palestinian-Israeli Forum of Bereft Families“ für gleiche Rechte von Israelis und Palästinenser*innen.
Bracha Lichtenberg Ettingers Kunst
In ihrer Kunst entwickelte BRACHA, wie sie sich als Künstlerin nennt, ab 1981 singuläre Techniken: Sie legte Buchseiten oder historische Fotografien auf den Kopierer, öffnete diesen während des Belichtungsvorgangs und ergänzte die unvollständige Kopie mit Übermalungen aus Tusche, Öl und der Asche des noch unfixierten Tonerpigments. 1992 begann sie auf Leinwand zu malen. Bis heute mischt sie ihren Ölbildern Tusche und Asche bei, was ihnen den eigentümlichen Charakter von Webereien verleiht. Diesem trägt auch das Arbeiten in unzähligen Schichten zu. Über viele Jahre hinweg überzieht sie die Leinwand mit Punkten, bis sich unabsehbare Schemen abzeichnen. In jedem Gemälde lassen sich mannigfaltige Figuren und Gesichter erkennen. In der Ausstellung wird anschaulich, wie diese Figuren über die Jahrzehnte hinweg zunehmend an Mobilität und Farbigkeit gewinnen. In den jüngsten Malereien der Serie „Angel of Carriance“ (Engel des Fürtragens) gipfelt diese Entwicklung in einer Spannung zwischen Aufruhr und Zuversicht. BRACHAs Werke wie auch die Titel, die sie ihnen gibt (etwa „Eurydice“, „Medusa“ oder „Rachel“) sind geprägt von ihrer Beschäftigung mit spirituellen Traditionen wie dem Judaismus, dem Christentum oder dem Buddhismus, wie auch insbesondere der italienischen Malerei. Den Gemälden und Zeichnungen stellt die Ausstellung BRACHAs Notizbücher gegenüber, die ihrerseits Kunstwerke sind und Gegenstand vieler Ausstellungen waren. In ihnen hält sie Empfindungen, Gedanken und Träume in Notizen, Zeichnungen, Tuschemalereien und Aquarellen fest. Hier kann man der Künstlerin beim Nachdenken zusehen – auch über die fürchterlichen Ereignisse während des Terrorüberfalls der Hamas auf Israel vom 7. Oktober 2023 und des folgenden Krieges. „[M]ein Herz weint um jeden Toten auf allen Seiten“, schrieb sie in der Erklärung ihres Rücktritts aus der Findungskommission für die künstlerische Leitung der Documenta im November 2023. „Jedes Leben ist kostbar.“
Beziehung zu Deutschland
Die Ausstellung im K21 bietet die Sensation einer späten Entdeckung. Dass BRACHA in Deutschland erst jetzt größere Bekanntheit erlangt, ist dem Umstand geschuldet, dass sie sich lange bewusst dagegen entschied hierzulande auszustellen. Grund dafür war gerade ihre intensive Auseinandersetzung mit dem Land ihrer Vorfahren. Die deutschen Wurzeln ihrer Familie reichen bis ins 15. Jahrhundert zurück. Die historischen Abbildungen, die BRACHAs Werken zugrunde liegen, haben fast alle mit deutscher Geschichte zu tun: Darunter sind Familienfotografien, die etwa ihre Eltern beim Spaziergang im jüdischen Ghetto von Lodz zeigen; Medienbilder der Olympiade 1936 in Nürnberg; die Fotografie einer Massenerschießung von Frauen und Kindern 1942 in der Ukraine; aber auch frühe deutsche Luftaufnahmen von Palästina, die 1917 während des Ersten Weltkriegs entstanden. Im ganzen Werk hallen die unaufgelösten historischen Spannungen zwischen Israel, Palästina und Deutschland nach – verbunden mit einem Bewusstsein für Verletzlichkeit, wechselseitige Abhängigkeit und die Vorläufigkeit jedes sicheren Aufenthaltsortes.
Kunst als Zeuginnenschaft
Die meisten von BRACHAs Verwandten wurden während der Shoa ermordet. Ihren Eltern gelang die Flucht ins britische Mandatsgebiet Palästina, wo Bracha Lichtenberg Ettinger wenige Wochen vor der Staatsgründung Israels 1948 in Tel Aviv zur Welt kam. Als Tochter von Holocaustüberlebenden, die für ihre traumatischen Erinnerungen keine Sprache finden konnten, kreisen BRACHAs Kunst und Denken um die Möglichkeit, Zeugin von Zeuginnen zu sein – eine Rolle, die sie auch der Kunst zuschreibt. Kunst erlaubt, was BRACHA wit(h)nessing nennt (deutsch etwa: Mitzeugenschaft): die Erfahrung der Präsenz eines anderen Lebens, vermittelt durch die Künstlerin und die Malerei selbst. Dieses wechselseitige Erkennen, das immer unvollständig und immer individuell ist, kann zum Verständnis und zur Heilung geteilter Verletzungen beitragen. Ihre langjährige Beschäftigung mit persönlichen wie mit historischen Traumata in ihrer Theorie wie ihrer Malerei führte BRACHA jüngst zur Überzeugung, dass ihr Werk jetzt bereit ist, auch in Deutschland Wirkung zu entfalten.
Kunst als Heilung
Für die Beschäftigung mit Kunst, Heilung und weiblichem Wissen stellt Bracha Lichtenberg Ettingers Werk eine Schlüsselposition dar. In ihrer Kunst wie in ihrer Theorie sucht sie nach Möglichkeiten, Gewalt und Polarisierung zu überwinden und Räume für Zwischenmenschlichkeit, Mitgefühl und Offenheit gegenüber einer gemeinsamen Zukunft zurückzugewinnen. Ihr Nachdenken über das Geistige in der Kunst bietet viele Anknüpfungspunkte mit Werken in der Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, etwa von Wassily Kandinsky, Agnes Martin oder Paul Klee, über die sie auch theoretisch geschrieben hat. 2016 hielt sie im K20 einen Vortrag über die Kunst von Agnes Martin, 2024 über die von Hilma af Klint. In ihrem Essay „Engel des Fürtragens“, der im Katalog zur Ausstellung erstmals auf Deutsch erscheint, warnt sie vor einer Instrumentalisierung der Kunst für politische Agenden, befeuert durch die Dynamik der sogenannten sozialen Medien. Nur wenn Kunst als eigenständige Dimension ihre Unabhängigkeit und ihre Langsamkeit behauptet, kann sie heilend wirken und die menschliche Fähigkeit stützen, Unterschiede wertzuschätzen und einander zugewandt, fürsorglich und unterstützend zu begegnen. Darin liegt ihre auch politische Kraft. BRACHAs einzigartige Verknüpfung von Malerei, Psychoanalyse und Ethik erlaubt, kollektive Wunden und Traumata sowie deren Heilung als zugleich radikal persönliche und radikal gemeinschaftliche Aufgabe zu sehen.
Die erste deutschsprachige Publikation zum Werk Bracha Lichtenberg Ettingers Zur Ausstellung erscheint ein 144-seitiger Katalog im DISTANZ-Verlag mit zahlreichen Werkabbildungen, Essays von Bracha Lichtenberg Ettinger und Kolja Reichert sowie Auszügen kanonischer Essays über BRACHAs Werk von Nicolas Bourriaud, Christine Buci-Glucksmann, Rosi Huhn, Jean-François Lyotard, Brian Massumi und Griselda Pollock.
Bracha Lichtenberg Ettinger: Engel des Fürtragens
Distanz Verlag
ca. 29,- EUR in der Ausstellung
c. 36,- im Buchhandel
Talks mit BRACHA
22. Februar, 12 – 18 Uhr K21 Kuppel
Eintritt frei mit Ausstellungsticket
Mit Carolyn Christov-Bakargiev, Nicolas Bourriaud, Rosi Huhn, Bracha Lichtenberg Ettinger u.a.
Bracha Lichtenberg Ettinger beeinflusst nicht nur eine jüngere Künstlerinnengeneration. Ihre Theorie des matrixialen Grenzraums wird auch in Psychoanalyse, Kunstphilosophie und weiteren Wissenschaften rezipiert. Am Tag nach der Eröffnung diskutieren prominente Wegbegleiterinnen den Einfluss von Bracha Lichtenberg Ettingers Kunst und Theorie. Im Zentrum steht die Rolle der Kunst als Quelle von Menschlichkeit, Verständigung und Zukunftssinn.
Zur Schreibweise des Namens
Bracha Lichtenberg Ettinger wird oft mit Bracha L. Ettinger abgekürzt. Museum und Künstlerin haben sich für die Ausschreibung des deutschen Nachnamens „Lichtenberg“ entschieden und schreiben entweder immer den kompletten Namen aus oder verwenden den Künstlerinnennamen BRACHA (immer in Großbuchstaben).
Kurator: Kolja Reichert
K21 Ständehaus
Ständehausstraße 1
40217 Düsseldorf
www.kunstsammlung.de
Bild: Bracha Lichtenberg Ettinger
Foto: Limor Ben Romano, 2022
BRACHA LICHTENBERG ETTINGER
Ausstellung im K21 Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen
Veröffentlicht am: 18.02.2025
Ausdrucken: Artikel drucken
Lesenzeichen: Lesezeichen speichern
Feedback: Mit uns Kontakt aufnehmen
Twitter: Folge uns auf Twitter
Facebook: Teile diesen Beitrag auf Facebook
Hoch: Hoch zum Seitenanfang